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Radikal aus Verzweiflung

Eugen Theise11. Februar 2014

Viele Aktivisten glauben längst nicht mehr an eine politische Lösung des Konflikts mit Präsident Janukowitsch. Sie wenden sich rechten Gruppen zu - obwohl sie deren Gedankengut eigentlich gar nicht teilen.

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Kämpfer der rechtsradikalen Bewegung "Pravyj Sektor" (Foto: DW)
Bild: DW/A. Savitski

Vermummte Männer wärmen sich an einem rostigen Kanonenofen. Sie sitzen abseits der Barrikaden auf dem Maidan - dem von Aufständischen besetzten Unabhängigkeitsplatz in Kiew. Es ist ein Uhr nachts, der Platz menschenleer. Nun wagen die Maskenmänner ein Gespräch. Dass sie der rechtsradikalen Bewegung "Pravyj Sektor" (Rechter Sektor) angehören, erfährt man nur über Vertrauenspersonen. Die Männer scheuen die Öffentlichkeit. Ihnen drohen bis zu 15 Jahre Haft, seit die Bewegung von der Regierung als extremistisch eingestuft wurde.

Kämpfen mit allen Mitteln

Einer der Männer traut sich, die Maske abzulegen. Jung ist er, um die 30. Sein Blick wirkt müde, doch seine Worte sind entschlossen. "Ich bin hier, weil meine Geduld am Ende ist. Ich habe keine Arbeit. Die Firma meines Bruders, bei der ich gearbeitet habe, wurde von Vertretern des Janukowitsch-Clans einfach weggenommen. Mein Bruder hat ein kleines Kind und ist zu Hause geblieben. Ich bin aber da und habe keine Angst zu sterben", erzählt der junge Mann aus der südukrainischen Stadt Berdjansk. Mit dem rechtsradikalen Gedankengut von "Pravyj Sektor" will er nichts zu tun haben. Die Ideologen dieser ultranationalistischen Bewegung vertreten ein ethnozentristisches Weltbild. Sie lehnen Pluralismus in der Politik, Demokratie und liberale Werte ab. Die heutige ukrainische Führung bezeichnen sie als "volksfeindlich". Die Annäherung an die EU wird von den Ultranationalisten ebenso abgelehnt wie eine Anbindung an Russland.

Das alles spielt für den Aktivisten aus Berdjansk keine Rolle. Was für ihn zählt, sind Taten. "Ich will einfach nicht monatelang dastehen, während friedliche Regierungsgegner verhaftet, entführt und gefoltert werden. Ich will gegen dieses Unrechtsregime kämpfen - mit allen Mitteln", erzählt der Rebell aus Berdjansk. Seine maskierten Kameraden nicken. Auch sie sind dabei, weil die Rechten "die einzigen sind, die wirklich gegen dieses korrupte Regime kämpfen wollen".

Etwa 500 Kämpfer zählt "Pravyj Sektor" inzwischen. Dieser Zusammenschluss ultranationalistischer Organisationen entstand vor zwei Monaten als Reaktion auf die gewaltsame Auflösung friedlicher Demonstrationen gegen Präsident Viktor Janukowitsch. Umgehend fing die Vereinigung damit an, ihre Mitglieder militärisch auszubilden, mit Gasmasken und Schlagstöcken zu bewaffnen. Der Umgang mit Molotow-Cocktails gehört zur Ausbildung.

Rechtsruck auf dem Maidan

Andrij Jermolenko gründete auf dem Maidan den "Stab des Künstler-Widerstandes" (Foto: DW)
Andrij Jermolenko gründete auf dem Maidan den "Stab des Künstler-Widerstandes"Bild: DW/Eugen Theise

Dieses entschlossene Auftreten findet bei anderen Aktivisten des Maidan Zustimmung. "Ich bin auch inzwischen ein 'Radikaler'", sagt der Künstler Andrij Jermolenko im Gespräch mit der DW. "Wir - Künstler, Studenten, Unternehmer - demonstrierten monatelang friedlich gegen diese Regierung. Aber man hörte nicht auf uns. Als uns der Kragen platzte, wurden wir als Radikale oder Extremisten gebrandmarkt. Na, dann sind wir das wohl auch. Wir werden gegen diese Machthaber, die uns betrügen, weiterkämpfen", so Jermolenko. Auch er hat seine Maske immer dabei - für den Fall, dass wieder gekämpft wird.

Von den Verhandlungen der parlamentarischen Opposition mit dem Präsidenten über eine Übergangsregierung hält Jermolenko nicht viel. "Wir werden nicht vom Maidan gehen, auch wenn die Opposition irgendeinen Deal mit dem Präsidenten macht. Wir landen alle im Gefängnis, wenn wir gehen", sagt er. Der Präsident führe einen Krieg gegen das eigene Volk. Deshalb müsse die Protestbewegung zusammenhalten. Die Kämpfer vom "Pravyj Sektor" seien unverzichtbare Mitstreiter, auch wenn es ideologische Unterschiede gebe.

Es geht nicht mehr um Europa

Die Kinoproduzentin Olga Hodowanez ist freiwillige Helferin auf dem Maidan in Kiew (Foto: DW)
Die Kinoproduzentin Olga Hodowanez ist freiwillige Helferin auf dem Maidan in KiewBild: DW/Eugen Theise

Die massive Gewalt der Regierung gegen Demonstranten hat den Blickwinkel auf dem Maidan verändert. "Ich bin hier nicht für Europa oder gegen Russland. Ich bin hier, um für mein Leben zu kämpfen. Die Machthaber, die uns töten, müssen weg", sagt im Gespräch mit der DW die Kinoproduzentin Olha Hodowanez. Die rechtsradikale Gesinnung von Teilen der Regierungsgegner stört auch sie nicht. "Dieses Regime macht aus uns allen Radikale. Die Jungs von 'Pravyj Sektor' schützen uns vor den Angriffen der Sicherheitskräfte - das ist das, was zählt", sagt Olha.

Die Kinoproduzentin engagiert sich auf dem Maidan für die Verletzten der Straßenkämpfe. Viele von Ihnen haben Angst, selbst im Krankenhaus von der Polizei verhaftet zu werden. Olha sucht in Kiew Familien, die Verletzte für einige Wochen aufnehmen. Sie hofft, dass die zahlreichen Opfer nicht umsonst gewesen sein werden. Wie viele andere auf dem Maidan träumt sie von einem Neuanfang in der Ukraine ohne Janukowitsch. Vor allem alle korrupten Richter, Staatsanwälte und Polizisten müssten entlassen werden, fordert die Aktivistin.

Erneute Eskalation befürchtet

Je länger Verhandlungen der Opposition mit dem Präsidenten ohne konkrete Ergebnisse bleiben, desto wahrscheinlicher werde eine neue Gewaltwelle, befürchtet Olha Hodowanez. Die Anführer von 'Pravyj Sektor' haben am Wochenende den Waffenstillstand aufgekündigt und zu einer neuen Blockade des Regierungsviertels aufgerufen. Denn die Regierung hat ihre wichtigste Forderung - die Freilassung von verhafteten Aktivisten - ignoriert. "Wir werden kämpfen", sagen die Kämpfer von "Pravyj Sektor". Dass den ukrainischen Sicherheitskräften inzwischen offiziell der Einsatz von Schusswaffen erlaubt wurde, hält sie nicht auf.