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KonflikteNahost

"Flächenbrand in Nahost" - was heißt das eigentlich konkret?

19. Oktober 2023

Seit Beginn des Terrorangriffs der Hamas auf Israel warnen Politiker und Experten vor einem Flächenbrand in der Region. Welche Dynamiken sind besonders gefährlich - und wer sind die Hauptakteure? Ein Überblick.

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Trauernde Menschen legen Hände und den Kopf auf einen mit einer israelischen Flagge bedeckten Sarg eines Opfers des Terrorangriffs der Hamas
Beerdigung von Opfern des Terrorangriffs der Hamas im Kibbutz BeeriBild: Hadas Parush/REUTERS

"Sorge vor Eskalation im Nahen Osten", "Die Finger sind am Abzug", "Kommt nun der große Flächenbrand"? Die drohende Ausweitung des Krieges zwischen Israel und der Hamas ist seit Tagen das dominierende Thema in internationalen Medien - und der verheerende Raketeneinschlag in einem Krankenhaus in Gaza-Stadt hat das Risiko noch weiter erhöht. "Aufgrund meiner Treffen und der Dynamik, die ich vor Ort beobachte, würde ich Folgendes sagen: Die Gefahr einer Ausweitung dieses Konflikts ist real - sehr real. Und äußerst gefährlich." So fasste Tor Wennesland, UN-Koordinator für den Friedensprozess im Nahen Osten, die Lage vor dem UN-Sicherheitsrat in New York zusammen.

Gefahr eines Zwei-Fronten-Krieges

Ein Land steht in den meisten Szenarien gefürchteter Eskalationsspiralen ganz oben auf der Liste: Israels nördlicher Nachbar Libanon. Der Libanon ist Sitz der radikal-schiitischen Hisbollah-Miliz, die mehr noch als die Hamas vom Iran unterstützt wird. Die Hisbollah wird in vielen westlichen und einigen arabischen Ländern als Terrororganisation eingestuft und hat die Zerstörung Israels zum Ziel. Militärisch ist sie deutlich schlagkräftiger als die Hamas - ihr aktueller Waffenbestand wird auf mindestens 100.000 Raketen geschätzt. An Israels Nordgrenze zum Libanon ist es in den vergangenen Wochen immer wieder zu Gefechten gekommen, israelische Soldaten sollen bereits bewaffnete Kämpfer getötet haben, die bis nach Israel vorgedrungen sind.

Hisbollah-Mitglieder in grüner Militärkleidung und zur einen Hälfte schwarz und zur anderen Hälfte rotbraun bemalten Gesichtern stehen mit verschränkten Armen zusammen
Hisbollah-Mitglieder bei der Beerdigung zweier getöteter Kämpfer am 10. Oktober im SüdlibanonBild: Hussein Malla/AP/picture alliance

Zwar hat die Hisbollah - ein  zentraler politischer Faktor im komplexen libanesischen Machtgefüge - nach der Krankenhaus-Tragödie vom Dienstag einen "Tag des Zorns" ausgerufen. Sie hat aber bisher eine militärische Eskalation vermieden. Doch die Kämpfer der Hisbollah könnten sich nach Auffassung vieler Beobachter schnell herausgefordert sehen, sollte sich die israelische Offensive in Gaza ausweiten und Teile des Gebiets gar von Israel besetzt werden. Die Folge wäre ein möglicher Zwei-Fronten-Krieg. Dieser - da sind sich fast alle Militärexperten einig - würde zu einem enormen militärischen Kraftakt für Israel werden und die gesamte Region weiter destabilisieren.

Iran: vom Terrorunterstützer zur direkten Kriegspartei?

Vom ersten Tag des Krieges schwingt im Hintergrund der Verdacht  eines iranischen Einflusses und sogar einer iranischen Beteiligung mit. Bisher gibt es keine eindeutigen Beweise, dass der Iran aktiv in die Terror-Vorbereitungen der Hamas einbezogen war. Die Hamas wird zwar vom Iran unterstützt, hat in der Vergangenheit aber auch immer wieder eigenständig Entscheidungen getroffen.

Im linken Bildvordergrund ist eine brennende israelische Flagge zu sehen, im Hintergrund stehen Männer mit erhobenen Fäusten
Zum Jahrestag der Islamischen Revolution verbrennen Demonstranten in Teheran im Februar eine israelische FlaggeBild: Sobhan Farajvan/Pacific Press/picture alliance

Genauso wie über eine Beteiligung Irans im Vorfeld des Terrorangriffs wird aktuell darüber spekuliert, ob sich in Teheran eher zurückhaltende Kräfte oder Hardliner durchsetzen. Irans Außenminister Hossein Amir-Abdollahian stellte bereits klar, dass sein Land sich "vorbeugende Maßnahmen" gegen Israel vorbehalte. Viele Beobachter sehen Irans vorrangiges Ziel jedoch eher darin, durch die Unterstützung von Hamas, Hisbollah und der palästinensischen Terrorgruppe Islamischer Dschihad einen Stellvertreterkrieg aus der Ferne zu führen und Israel zu einem bereits erwähnten Zwei-Fronten-Krieg zu zwingen. 

Trotzdem hebt US-Sicherheitsberater Jake Sullivan hervor, man könne derzeit "nicht ausschließen, dass der Iran doch beschließt, unmittelbar einzugreifen". Ein düsteres Szenario: Ein direktes Eingreifen des Iran könnte zahlreiche weitere Staaten wie Syrien, den Irak und nicht zuletzt Israels Hauptverbündeten USA direkt in den Konflikt hineinziehen.

Ägypten: Sorge vor einer Kettenreaktion

Mit seiner direkten Grenze sowohl zu Israel als auch zum Gazastreifen ist Ägypten unmittelbar vom Krieg betroffen. Das Land unterhält seit vielen Jahren sowohl mit Israel als auch mit den Palästinensern diplomatische Beziehungen und hat sich in den vergangenen Wochen zu einer Art Drehkreuz der internationalen Politik entwickelt - etwa durch den Besuch des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz in Kairo.

Porträtaufnahme von Ägyptens Präsident Adbel Fattah al-Sisi
Ägyptens Präsident Adbel Fattah al-SisiBild: Michael Kappeler/AFP/Getty Images

Ägypten gilt als potenzieller Vermittler, hat aber gleichzeitig Sorgen, selbst in den Krieg hineingezogen zu werden. Bisher weigert sich Präsident Adbel Fattah al-Sisi, größere Gruppen palästinensischer Flüchtlinge aufzunehmen, denn in dem wirtschaftlich gebeutelten Land stößt dies auf starken Widerstand. Zudem wird befürchtet, dass damit auch Hamas-Kämpfer ins Land kommen könnten. Diese könnten, so die Befürchtung der ägyptischen Regierung, Kontakte zur Muslimbruderschaft aufbauen, die der Hamas nahesteht und in Ägypten als Staatsfeind gilt. "Der Sinai würde die Basis für weitere Angriffe gegen Israel", so Al-Sisi bei seinem Gespräch mit Bundeskanzler Scholz. Das wiederum könne direkte Angriffe der Israelis auf ägyptisches Territorium und unkalkulierbare Kettenreaktionen zur Folge haben.

Angst vor weiterer Eskalation - nicht nur im Nahen Osten

Nicht nur Israels direkte Nachbarn, auch Europa hat zunehmend Sorge, in den Konflikt hineingezogen zu werden. Während Großbritannien und die USA bereits Kriegsschiffe in die Region geschickt haben, halten sich die Staaten der EU mit militärischen Abschreckungsmaßnahmen zurück.

Versuchte Brandstiftung: Anschlag auf Synagoge in Berlin

Gleichzeitig steigt die Bedrohung durch Gewalt und Terroranschläge von Hamas-Sympathisanten auf europäischem Boden. Erst am Mittwoch hatten Unbekannte versucht, einen Brandanschlag auf eine Synagoge in Berlin zu verüben. Bei gewalttätigen Demonstrationen wurden diese Woche bereits zahlreiche Polizisten verletzt.

Der Buchautor und Nahost-Experte Hasnain Kazim kommt im Interview mit dem deutschen Fernsehsender ARD zu einem beunruhigenden Fazit: "Da spielen inzwischen so viele Kräfte mit, dass ein Stellvertreterkrieg entstehen kann, der verheerend sein wird." Denn, so betonen viele Beobachterinnen und Beobachter, nicht nur die geopolitischen Strategien der regionalen Akteure spielten hierbei eine Rolle. Durch viele Jahrzehnte emotionaler Aufheizung, gezielter Propaganda und zunehmender Desinformation ist ein gefährliches Gemisch entstanden, das immer schwieriger zu kontrollieren sei.