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Zwischen Film und Wirklichkeit

14. April 2009

Der Dharavi-Slum in Mumbai ist der Schauplatz des mit acht Oscars gekrönten Filmes "Slumdog Millionär". Während der Streifen im Westen gefeiert wird, herrscht im Slum selbst einfach nur Wut über das "verzerrte" Bild.

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Slumkinder in IndienBild: AP

Der Dharavi-Slum von Mumbai liegt nahe der Bahnstation Bandra. Am Eingang des Viertels läuft man gleich auf eine Polizeistation zu. Ein bisschen wirkt sie wie ein mahnender Zeigefinger für Gesetzesbrecher. Das Gebäude ist allerdings die einzige originalgetreue Kulisse des fiktiven Streifens "Slumdog Millionär", dessen Schauplatz Dharavi ist.

Front der Polizeistation am Eingang des Dharavi Slums in Mumbai (Foto: Priya Palsule-Desai)
Polizeistation am Eingang des Dharavi Slums in Mumbai – Das einzige Gebäude aus „Slumdog Millionär“, das originalgetreu istBild: DW / Priya Palsule-Desa

„Wir in Dharavi sind keine Hunde“

Spricht man hier in den engen Gassen des Viertels die Leute auf den Film an, erntet man meistens wütenden Blicke und lautstarke Reaktionen. Der Müllhändler Said Khan beispielsweise kann sich vor Aufregung über den Filmtitel kaum halten. "Was bedeutet denn Slumdog?! Dog heißt Hund! Soll das heißen, wir hier in Dharavi sind Hunde?! Wo beschimpft man denn Menschen als Hunde?! Wir leben und arbeiten hier und machen durchaus gute Geschäfte. Hier bettelt niemand, alle arbeiten für Geld."

Kinder beim Müllsammeln (Foto: Priya Palsule-Desai)
Statt erbetteltes Geld wird in Dharavi Plastik sortiert und zwar gegen Bezahlung – eine ganze Industrie hat sich hier entwickeltBild: DW / Priya Palsule-Desa

Und in der Tat, in Khans einfacher Lagerhalle entlang der so genannten "Müllstraße", geht es sehr geschäftig zu. Ständig werden Säcke mit Plastikabfall angeliefert, und in der offenen Eingangshalle sitzen Frauen, die Plastikmüll nach Farben sortieren. Khan gehört zu den Geschäftsleuten in Dharavi, die es zu etwas gebracht haben. Müllrecycling und Ledergerbereien sind die zwei florierenden Wirtschaftszweige hier - in diesen Branchen arbeitet ein Großteil von Dharavis Bewohnern. Im größten Slum Südasiens wohnen zwischen 600.000 und einer Millionen Menschen. Und das auf einer Fläche von gerade einmal zwei Quadratkilometern - der Größe von 27 Fußballfeldern. Der Film, so Khan, zeige ein Dharavi, wie es vor 40 Jahren existierte. Und schaut man sich um, so muss man dem Geschäftsmann Recht geben. Inzwischen sind die Wellblechhütten Lehmhäusern gewichen, vereinzelt sieht man Klimaanlagen und aus jeder noch so kleiner Behausung flimmert ein Fernseher.

Verdreckter Fluss (Foto: Priya Palsule-Desai)
Der Dreck im Fluss hinter der so genannten „Müllstraße“ ist nicht zu übersehen und ein typisches Slum-ProblemBild: DW / Priya Palsule-Desa

Dharavi ist eine selbstständige Wirtschaftseinheit

Hinzu kommt, dass die Arbeit im Müllrecycling und den Ledergerbereien immer besser geht - schließlich wird hier der ganze Müll von Mumbai gesammelt und weiterverarbeitet. Der Slum ist eine autarke Einheit in der Stadt mit eigener Infrastruktur, Wirtschaft und bescheidenem Wohlstand. Der Durchschnittslohn eines ungelernten Recycling-Arbeiters liegt beispielsweise zwischen einem und einem Euro fünfzig am Tag. Eine Mahlzeit kostet rund 20 Cent in Mumbai. Der Lohn ist nicht viel, reicht aber aus, um zu überleben.

Anjera Shankar sitzt vor einem Haus (Foto: Priya Palsule-Desai)
Von Dharavi als Software-Ingenieurin in den USA zu gehen ist Anjera Shankars Traum nach dem CollegeBild: DW / Priya Palsule-Desa

Vom Slum aufs College

Und auch das Bildungsniveau im Slum ist gestiegen. An fünf staatlichen Schulen können Kinder bis zur 10. Klasse kostenlos lernen. Das schließt auch den Englisch-Unterricht ein, die zweite Amtssprache des Subkontinents. Viele Jugendliche schaffen sogar den Sprung aufs College und wollen studieren wie die 16-jährige Anjera Shankar. Ihr Vater ist Riksha-Fahrer und spart für ihre Studiengebühren, denn ihr Traum ist es, eines Tages als Software-Ingenieurin in die USA auszuwandern. Doch den Wirbel um "Slumdog Millionär" bekomme auch sie zu spüren, wenn sie am College im feinen Finanzdistrikt ist, so Anjera. "Wenn ich erzähle, dass ich aus Dharavi kommen, dann denken alle sofort an die schlechten Szenen aus dem Film und das trifft mich schon ganz schön", ergänzt sie bitter.

Hauswand mit Stromkasten (Foto: Priya Palsule-Desai)
Not macht erfinderisch – Damit die Klimaanlage (r.o.) läuft, wird im Slum einfach der Stromkasten illegal angezapft.Bild: DW / Priya Palsule-Desa

Wertsteigerung trotz Slumproblemen

Anjera wohnt mit ihrer fünfköpfigen Familie in einem 15 Quadratmeter kleinen Zimmer, über ihnen befindet sich die Behausung einer anderen Familie, in die man nur mit einer Sprossenleiter steigen kann. Die enge Bauweise zieht sich durch den ganzen Slum. Zusätzlich sind die umliegenden Flüsse verdreckt, denn es fehlt an Abwassersystemen. Alles wird einfach ins Flussbett geleitet, so dass der Dreck im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinkt. Und auch die Stromversorgung hat noch nicht alle Häuser erreicht. Damit hier aber niemand im Dunkeln sitzen muss, zapfen die Bewohner einfach den nächstbesten Stromkasten an, illegal natürlich.

Trotz dieser Umstände kehren gebildete Jugendliche durchaus wieder nach Hause zurück. Für Sayad Gos, der mit seinem BWL-Diplom als Geschäftsführer eines Recycling-Hofes arbeitet, hat Dharavi durchaus Vorteile und einen eigenen Charme. Der Stadtteil liege so nah an der Bahn, sagt er, Dharavi sei im Zentrum von Mumbai und, so schwärmt Gos weiter: "Wir machen es uns mit unserem Geld eben hier schön. Warum sollten wir, die wir im Zentrum Mumbais leben, das Herz der Stadt verlassen?" Und in der Tat, dafür gibt es keinen Grund. Im Gegenteil: Seit einigen Jahren explodieren die Grundstückspreise auch im Slum von Dharavi, was den Ort nicht nur für seine Bewohner immer attraktiver macht.

Autorin: Priya Palsule-Desai
Redaktion: Esther Broders