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"Zur Not werden sowjetische Panzer rollen"

Sarah Judith Hofmann 12. Juni 2013

Am 17. Juni 1953 rückten in der DDR sowjetische Truppen ein und beendeten damit die Demokratiebewegung. Das war ein starkes Signal auch für andere osteuropäische Länder, meint der Historiker Jens Schöne.

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Jens Schöne (Foto: DW / Sarah Hofmann)
Bild: DW/S. Hofmann

DW: Herr Schöne, 60 Jahre liegt der 17. Juni 1953 nun zurück, weshalb ist es wichtig an diesen Tag zu erinnern?

Jens Schöne: Es ist einer der wenigen Tage in der deutschen Geschichte, insbesondere des 20. Jahrhunderts, an dem es offensiv um Demokratie ging, um Freiheit, um Selbstbestimmung. Da wir als Deutsche nicht sonderlich viele solcher Tage in unserer Geschichte zu bieten haben, scheint es mir äußerst sinnvoll, sich mit diesen Ereignissen zu beschäftigen.

Freiheit und Demokratie. Das klingt sehr abstrakt. Wofür demonstrierten die Menschen. Was war ihr Anliegen?

Freiheit ist sicher ein sehr abstrakter Begriff. Der äußerte sich in der DDR 1953 aber auch in ganz konkreten Dingen. Es wurde von Seiten der SED ein harter Kampf gegen die Religion geführt, es wurde enteignet, es wurde eingesperrt. Die Zahl der Gefangenen in der DDR verdoppelte sich innerhalb eines Jahres, von 1952 bis 1953. Die Menschen gingen auf die Straße, weil sie einfach genug hatten von der Politik und der Härte, mit der diese durchgesetzt wurde.

Was war der Anlass? Was brachte das Fass zum Überlaufen?

Ironischerweise ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, nicht eine Verschärfung der Politik, sondern das Eingeständnis, dass die vorherige Härte falsch war. Am 5. März 1953 starb Stalin und seine Nachfolger waren erschrocken darüber, wie kompromisslos in den sowjetischen "Bruderstaaten" gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen wurde – auch in den anderen sozialistischen Staaten, nicht nur in der DDR. Es war die daraus folgende Lockerung, die den Leuten die Luft zum Atmen, zum Protestieren gab.

Berlin, 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in Ostberlin u. der DDR
Ost-Berlin, 17. Juni 1953: Demonstranten flüchten vor SchüssenBild: picture-alliance / akg-images

Wer waren diese Menschen, die am 17. Juni auf die Straße gingen? Waren es in erster Linie Arbeiter oder auch andere Teile der Bevölkerung?

Die klassische Interpretation ist: Am 17. Juni gehen die Arbeiter der Berliner Stalinallee auf die Straße und dann entsteht ein Flächenbrand in der ganzen DDR. Das stimmt aber nicht, denn es gibt schon ab dem 12. und 13. Juni überall in der DDR Widerstand. Und es sind nicht die Städte, sondern die ländlichen Teile, die Dörfer, die voranmarschieren. Wir haben es mit einem echten Volksaufstand zu tun und nicht – wie es lange hieß – mit einem Arbeiteraufstand.

Welche Rolle spielte der RIAS, der Rundfunk Im Amerikanischen Sektor?

Der RIAS spielte eine ambivalente Rolle. Er rief entgegen häufiger Vermutungen nicht zum Generalstreik auf, aber er tat das, was Medien der freien Welt immer tun, er berichtete über die Ereignisse. Dadurch verbreitete sich, was in Berlin passierte. Es wurde der berühmte Aufruf gesendet: "Sucht Eure Strausberger Plätze überall" – und damit die indirekte Aufforderung nicht nur in Berlin, sondern DDR-weit zu demonstrieren. Von amerikanischer Seite gab es aber die klare Vorgabe an den RIAS, nichts zu tun, was die Sowjets provozieren könnte. Daher rief man zugleich zu Besonnenheit auf.

Es ist die Geschichte eines gescheiterten Volksaufstands. Denn sowjetische Panzer schlugen den Aufstand nieder. Wie kam es zu diesem drastischen Eingreifen der Sowjetmacht?

Es wird bereits in der Nacht zum 17. Juni in Moskau entschieden: Der Aufstand ist unter allen Umständen niederzuschlagen. Also ganz klar: keine Zugeständnisse. Es werden 18 Menschen standrechtlich erschossen und das zum Teil sehr willkürlich, einfach um abzuschrecken. Andererseits: diese Brutalität hätte noch ganz anders ausfallen können. Wir befinden uns acht Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, die sowjetische Seite hätte ein Blutbad anrichten können. Das tat sie aber nicht. In den meisten Fällen fuhren die Panzer erst einmal vor und die Soldaten versuchten mit den Aufständischen zu reden. Erst wenn das nicht funktionierte, fingen sie an zu schießen, aber auch dann nicht in die Massen hinein, sondern in den allermeisten Fällen über die Köpfe hinweg, um die Menschenmenge zu zerstreuen.

Warum hat der Westen nicht eingegriffen?

Das hat mit den alliierten Absprachen zu tun, die noch im Zweiten Weltkrieg getroffen wurden: Jede Besatzungsmacht ist für die Vorgänge in ihrer Besatzungszone verantwortlich. Und wir dürfen nicht vergessen, der Koreakrieg ist fast vorbei, es gibt Atomwaffen, keiner ist daran interessiert, einen Krieg zwischen den beiden Supermächten zu provozieren. So bitter das für die Aufständischen ist, der Volksaufstand war aus Sicht der Alliierten ein Störfaktor, der nicht mehr zu kontrollieren gewesen wäre, wenn er eskaliert wäre.

Wie schätzen Sie es heute rückblickend ein, was wäre passiert, hätten die Sowjets nicht eingegriffen?

Schaut man sich die zentralen Forderungen der Aufständischen wie freie Wahlen, Wiedervereinigung an, dann wäre es tatsächlich auf eine Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten hinausgelaufen.

Was waren die internationalen Auswirkungen des 17. Juni 1953? Wie wird der Aufstand in den Ostblockstaaten wahrgenommen, welche Signalwirkung hat er auch dort?

Die Sowjetunion macht am 17. Juni 1953 in aller Deutlichkeit klar, dass sie nicht bereit ist, in ihrem Machtbereich Demokratisierungsprozesse zu dulden, dass sie jeden Zentimeter Boden auch mit Waffengewalt verteidigen wird. Das ist natürlich ein starkes Signal an alle anderen osteuropäischen Staaten. Sie wissen, sollten wir uns für Demokratie und Freiheit einsetzen, werden zur Not sowjetische Panzer rollen. Das ist dann ja auch 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei der Fall.

Kann man die Ereignisse 1956 in Ungarn, 1968 in Prag und vielleicht sogar bis hin zur Solidarnosc-Bewegung in Polen mit denen des 17. Juni 1953 in der DDR vergleichen?

Sowjetische Panzer am 21. Aug. 1986 in der Prager Innenstadt (Foto: ddp images/AP Photo/file)
Aufstand in der Tschechoslowakei: Auch den "Prager Frühling" 1968 walzten sowjetische Panzer niederBild: AP

Das sind alles Bewegungen für Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung. Aber: 1953 war ein Aufstand gegen das politische System, gegen den Sozialismus. Das ist 1968 in Prag völlig anders, da geht es um Reformsozialismus, um Veränderungen innerhalb des Systems. Natürlich sind die Ereignisse aufeinander bezogen und sei es nur durch das Eingreifen der sowjetischen Truppen, aber es gibt keine unmittelbare Verknüpfung zwischen ihnen.

Was war 1989 anders, warum konnte hier eine friedliche Revolution stattfinden?

Vor allem: Während der Aufstand 1953 durch die sowjetischen Panzer erstickt wurde, rollten sie 1989 nicht mehr. Aber das konnten die Revolutionäre nicht wissen. Noch Anfang Juni 1989 wurde in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens ein Massaker angerichtet. Es waren zwar keine sowjetischen, aber doch Panzer, die eine Demokratisierungsbewegung blutig erstickt hatten. Man muss den demonstrierenden Bürgern der DDR also eine gehörige Portion Mut zusprechen, auch wenn es auf politischer Ebene Zeichen gab, dass die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow nicht militärisch eingreifen würde.

Jens Schöne ist Historiker und stellvertrender Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen in Berlin. Er ist Autor verschiedener Bücher zur deutschen Zeitgeschichte, u.a. zum Volksaufstand der DDR am 17. Juni 1953.

Weiterlesen:

Jens Schöne: Volksaufstand. Der 17. Juni 1953 in Berlin und der DDR. Berlin Story Verlag 2013, ISBN 978-3-86368-076-3.