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Lebendige Vergangenheit

Birgit Görtz 26. Juni 2014

Wer in Flandern dem Ersten Weltkrieg nachspürt, kommt an rotem Klatschmohn, trauernden Eltern und einem Zapfenstreich kaum vorbei. Manches wird der oder die Besucherin aber vergebens suchen...

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Gedenkstätte Menin-Tor in Belgien
Bild: picture-alliance/Romain Fellens

"Auch wenn ich ihn nie getroffen habe, so habe ich jetzt das Gefühl, ich würde ihn kennen", sagt Nancy. Der Mann, den sie nie traf, ist der Bruder ihrer Großmutter. Er war 18 Jahre alt, als er für das britische Commonwealth in den Ersten Weltkrieg zog. Nancy und ihr Mann, beide Ende 40, kommen aus Neuseeland, um in Flandern am Grab des Großonkels zu gedenken. "Wir haben sein Grab mit der neuseeländischen Flagge geschmückt. Bevor er starb, hat er einen kleinen Elefanten nach Hause geschickt. Den habe ich jetzt mitgebracht und auf sein Grab gelegt."

Die Ruinen der Tuchhalle und der St. Martinkirche in Ypern im Januar 1917
Die Ruinen der Tuchhalle und der St. Martinkirche in Ypern im Januar 1917Bild: Getty Images

Was der kleine Spielzeug-Elefant bedeutet, weiß Nancy nicht, und es spielt für sie auch keine Rolle. Für sie zählt, es war das letzte Lebenszeichen ihres Verwandten. "Er starb mit 21 Jahren." Ich frage, ob er eine Idee hatte, worum es in dem Krieg im fernen Europa überhaupt ging? "Nein, ich denke, für ihn war es wie ein Abenteuer. Das war wohl so für die jungen Männer damals."

Ein Abenteuer, das zehn Millionen Soldaten nicht überlebten. Einer der blutigsten Kriegsschauplätze war Ypern an der belgischen Nordseeküste. Giftgas, Stellungskrieg, Granatenhagel - die Stadt ist zum Synonym für den Schrecken des Ersten Weltkrieges geworden. Nach vier Jahren Krieg war die Stadt ein Trümmerhaufen. Winston Churchill, damals britischer Munitionsminister, wollte die Ruinen zum Mahnmal gegen den Krieg erklären. Doch die Yperer bauten ihre Stadt wieder auf, fast originalgetreu. Das wunderschöne Gebäude der Tuchhallen, in dem einst die Kaufleute feine Stoffe feil boten, ist heute das "In Flanders Fields Museum".

Im Museum

Mir ist, als liefe ich gegen eine wummernde Klangwand. Die Komposition stammt von der britischen Band Tindersticks und gehört zum Konzept des Flanders Fields Museums: verstörend und faszinierend gleichermaßen. Der Name Flanders Fields geht zurück auf das Gedicht des kanadischen Colonel John McCrae. Verfasst hat er es 1915, nachdem ein Freund bei einem Granatangriff ums Leben kam. "In Flanders fields the poppies blow - Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn" heißt die erste Zeile.

McCrae starb Anfang 1918 an den Folgen einer Lungenentzündung. Doch sein Gedicht und die "poppies", die knallroten Blüten des Klatschmohns sind überall präsent. Wie jeder Besucher trage ich ein Armband in Form einer Mohnblüte. Darin ein Chip, mit dem ich die multimedialen Stationen bedienen, in meiner Familiengeschichte recherchieren kann: Wer hat wann wo gekämpft und wurde verletzt oder gar getötet.

Eine unglaubliche Geschichte

Der "Totenschein" von Amnrosius Baur (Foto: privat)
Der" Totenschein" von Amnrosius BaurBild: Elfriede Baur Sellari

Es kämen nicht oft Deutsche, doch gerade heute morgen wären zwei Damen aus Deutschland hier gewesen, um mehr über ihre Familiengeschichte zu erfahren, erzählt Piet Chielens vom Flanders Fields Museum. Was sie ihm erzählt hätten, bekäme er nicht alle Tage zu hören. Über den Eintrag im Gästebuch des Forschungszentrums nehme ich Kontakt per Mail zu einer der Damen auf. Demnach geht die Geschichte ihres Vaters so:

Ambrosius Baur ist zusammen mit 23 Kameraden in einem Grab auf dem Soldatenfriedhof in Langemarck bestattet. Auf seinem Grabstein sind sein Name, sein Dienstrang und der Name seines Regiments zu lesen. Ambrosius Baur kam mit 21 Jahren zu Kriegsbeginn nach Ypern. Anfang November 1914 wurde er mit abertausenden jungen, zum Teil schlecht ausgebildeteten Soldaten in die Schlacht geschickt, die als "Erste Flandernschlacht" traurige Berühmtheit erlangte. In weniger als einem Monat verlor die deutsche Armee mindestens 100.000 Mann.

Der britische Soldatenfriedhof Tyne Cot - geschmückt mit frischen Blumen (Foto: B. Görtz/DW)
Der britische Soldatenfriedhof Tyne CotBild: DW/B. Görtz

Die Heeresleitung schickte den Eltern von Ambrosius Baur eine Totenanzeige. Nach sechs Jahren aber stand eben dieser Ambrosius Baur unversehrt bei ihnen vor der Tür. Er sei in französischer Gefangenschaft gewesen, hätte all die Jahre keinen Kontakt aufnehmen können. Der Totgeglaubte wurde Lehrer, gründete eine Familie und wurde 96 Jahre alt.

Deutsche sind im Flanders Fields Museum eine Ausnahme. Hierher kommen vor allem Belgier, Franzosen, Briten und Staatangehörige der einstigen Kolonien. "Der Anteil der Besucher aus den USA wächst, obwohl sie so spät in den Krieg eingetreten sind", erzählt Piet Chielens. Insgesamt wollen 300.000 Menschen jedes Jahr die Ausstellung sehen.

Auf dem deutschen Friedhof in Vladslo kommen nur ab und an deutsche Besucher vorbei. Ein offiziell aussehender deutscher Kranz liegt schon eine Weile da. (Foto: B.Görtz/DW)
Auf dem deutschen Friedhof in Vladslo kommen nur ab und an deutsche Besucher vorbeiBild: DW/B. Görtz

Darunter viele Schulklassen, die ich auf den Soldatenfriedhöfen wiedertreffe. Zum Beispiel auf dem Tyne Cot Cemetery ganz in der Nähe. Es ist der größte britische Gedenkstätte auf dem Kontinent. Hier sind 11.956 Soldaten des einstigen britischen Commonwealth begraben – und vier Deutsche. Auf den Mauern ringsherum sind die Namen von 34.957 Soldaten eingraviert, deren Leichen nie gefunden wurden. Von ihnen blieben nur die Namen. Ob unbekannte oder bekannte Tote: Die hellen Grabsteine sind geschmückt, es wimmelt von Besuchern, die Plastikpoppies oder echte Blumen mitbringen.

In Stein gemeißelter Schmerz

Die "Trauernden Eltern" von Käthe Kollwitz. Ihr Sohn Peter starb im Oktober 1914, weniger als eine Woche nach seiner Ankunft an der Front. (Foto: B.Görtz/DW)
Die "Trauernden Eltern" von Käthe Kollwitz. Ihr Sohn Peter starb im Oktober 1914.Bild: DW/B. Görtz

Deutsches Erinnern an den Ersten Weltkrieg sieht deutlich anders aus. Den Friedhof in Vladslo, nördlich von Ypern, umsäumen hochgewachsene Eichen. Die dunklen Grabsteine sind von Moos überwuchert. Ich treffe eine der britischen Schulklassen, die ich zuvor schon in Tyne Cot gesehen habe. Es ist ganz offensichtlich eine Weile her, dass jemand hier einen Kranz für die 25.644 deutschen Soldaten niederlegte, die hier bestattet sind.

Darunter auch Peter Kollwitz, der Sohn von Käthe Kollwitz. 18 Jahre wurde ihr Sohn, 18 Jahre brauchte sie, um ihren Schmerz in Stein zu meißeln. "Die trauernden Eltern" - ein Mahnmal für alle Eltern, die in Flandern ihre Söhne verloren.

Inzwischen ist es Abend. Die Zeit drängt. Der Last Post am Menen-Tor in Ypern ist ein Muss für jeden, der auf Flanderns Feldern dem Krieg nachspürt. Wie jeden Abend seit 1928 um Punkt 20 Uhr spielen vier Bläser den Großen Zapfenstreich.

So klingt der Last Post

Heute legt eine Ehrenformation des niederländischen Militärs Kränze nieder. Das Andrang ist kaum zu glauben.

Zwei junge Pärchen aus England verfolgen die Zeremonie stumm und andächtig wie alle. Ihre Familienangehörigen hätten ihnen empfohlen, nach Flandern zu reisen. Die Reise habe sich gelohnt, sie sei eine gute Erfahrung. "Morgen schauen wir uns die Schützengräben an. Wir müssen noch so viel über den Krieg lernen."

Für die jungen Briten steht fest: Der Erste Weltkrieg ist DAS Schlüsselereignis für die Geschichte Europas der vergangenen 100 Jahre. Von jungen Deutschen habe ich nichts dergleichen gehört. Sie waren nicht da.