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Borno - Hort des Terrors?

Thomas Mösch15. Juli 2014

Die Terroristen von Boko Haram sind vor allem im nigerianischen Bundesstaat Borno aktiv. Das liegt auch an dem krassen sozialen Wandel der letzten Jahrzehnte, meinen Experten.

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Explosion einer Autobombe in Maiduguri am 01.07.2014
Bild: picture-alliance/AP Photo

Auch am Montag (14.7.2014) sollen Kämpfer der Terrorgruppe Boko Haram wieder Dutzende Menschen in einem Dorf im nigerianischen Bundesstaat Borno ermordet haben. Insgesamt sind nach Zählungen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mehr als 2000 Menschen dem islamistischen Terror in Nigeria zum Opfer gefallen. Die meisten Toten - 1446 - habe es in Borno gegeben, dem Bundesstaat, der als Wiege der Terrororganisation gilt, so HRW. Dabei hatte Nigerias Präsident Goodluck Jonathan im Mai 2013 den Ausnahmezustand über Borno und die zwei Nachbarstaaten Yobe und Adamawa verhängt, um den Terror zurückzudrängen.

Dafür erhielt das Militär dort nahezu unbeschränkte Befugnisse. Tatsächlich gelang es den Sicherheitskräften, die Bundesstaaten Adamawa und Yobe sowie Bornos Hauptstadt Maiduguri und andere größere Städte weitgehend zu befrieden. Die Leidtragenden dieser Militäroffensive sind nun offenbar die Bewohner in den abgelegenen Regionen im Süden und Osten Bornos an der Grenze zu Adamawa und zum Nachbarland Kamerun, wohin die Terroristen verdrängt wurden. Mehrfach pro Woche überfallen dort Bewaffnete Dörfer, zerstören Schulen, Kirchen, Häuser und massakrieren die Bewohner.

Wohnhaus in den Gwoza-Bergen Foto: Gerhard Müller-Kosack
Ein Gehöft in den Gwoza-Bergen in friedlicheren Zeiten. Heute haben die meisten Bewohner die Gegend verlassen.Bild: privat

Unzugängliche Bergregion

Der in England lebende deutsche Ethnologe Gerhard Müller-Kosack beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Bergregion zwischen der nigerianischen Stadt Gwoza und dem kamerunischen Mora. Die Gegend sei lange weitgehend von der Außenwelt abgeschieden gewesen, erklärt Müller-Kosack. Das Christentum sei erst in den 1960er Jahren dorthin vorgedrungen, der Islam habe sich erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten spürbar ausgebreitet. Viele Menschen seien noch heute Anhänger traditioneller afrikanischer Religionen. Christen gebe es dort jetzt allerdings keine mehr: "Östlich der Gwoza-Berge sind alle Christen geflohen, entweder über die Grenze nach Kamerun oder in andere sichere Gebiete außerhalb Bornos", weiß Müller-Kosack aus Berichten von Bekannten in der Region.

Das nigerianische Militär habe dort erst in den letzten Wochen angefangen, die Terroristen aktiv zu bekämpfen. Müller-Kosack führt dies vor allem auf das schwierige Gelände zurück: "Da kann man nur zu Fuß hin. Hinter jedem Felsen kann der Gegner lauern." Allerdings habe das kamerunische Militär auf der anderen Seite der Grenze schon unmittelbar nach der Pariser Anti-Terror-Konferenz im Mai 2014 Stellung bezogen, so Müller-Kosack.

Die Grenzregion Nigeria-Kamerun
Häufiges Ziel von Anschlägen: die Grenzregion zwischen Nigeria und KamerunBild: DW

Ursache: extreme Armut

Die Terroristen von Boko Haram sind in den Gwoza-Bergen offenbar nicht nur Besatzer. Auch junge, erst vor kurzem zum Islam übergetretene Männer aus den dortigen Dörfern hätten sich ihnen angeschlossen, berichtet der Ethnologe. Zwischen Muslimen und Christen habe sich schon seit längerem ein Konflikt entwickelt, der auch mit der extremen Armut in der Region zu tun habe. "Diesen Konflikt hat Boko Haram sehr negativ beeinflusst. Selbst wenn die Terroristen eines Tages besiegt sind, wird es schwer werden, die Wunden zu heilen", befürchtet Müller-Kosack. Auch ökonomisch und ökologisch sehen Wissenschaftler wie Gerhard Müller-Kosack für die Region schwarz. Dies betont auch das Netzwerk "Mega-Tschad" in einer kürzlich veröffentlichten Erklärung. In dem Netzwerk sind weltweit 500 Wissenschaftler zusammengeschlossen, die zur Tschadsee-Region forschen. Als Beispiel nennt Müller-Kosack die Terrassenfelder im kamerunisch-nigerianischen Grenzgebiet: "Die werden jetzt nicht mehr bewirtschaftet. Das kann sich negativ auf den Grundwasserspiegel auswirken bis in die Ebenen hinein." Schlechte Ernten und Hunger könnten die Folge sein.

Ein Islam der Toleranz

Gerhard Müller-Kosack in den Gwoza-Bergen 2005 (Foto: privat)
Noch auf eigener Recherche: Gerhard Müller-Kosack in den Gwoza-Bergen 2005Bild: privat

Erstmals seien Mitglieder von Boko Haram nach dem Mord an ihrem Anführer Mohammed Yusuf und an Hunderten weiterer Sektenmitglieder 2009 in den Bergen an der Grenze zu Kamerun aufgetaucht und hätten sich in den dortigen Höhlen versteckt, erklärt Müller-Kosack. Sie kamen aus der Provinzhauptstadt Maiduguri. Dass die Sekte dort so stark werden könnte, führt ein anderer Kenner der Region auf den sozialen Wandel der letzten Jahrzehnte zurück. Norbert Cyffer ist emeritierter Professor für Afrikanistik in Wien und Experte für Sprache und Kultur der Kanuri, des größten Volkes in Borno, dem auch der Anführer von Boko Haram, Abubakar Shekau, angehört. "Als ich 1969 zum ersten Mal nach Maiduguri kam, hatte die Stadt vielleicht 80.000 Einwohner. Heute sollen es eineinhalb Millionen sein", so Cyffer. Dies habe viele soziale Umbrüche mit sich gebracht, unter anderem den, dass die Kanuri heute in der Stadt nur noch eine unter mehreren Volksgruppen sind. In den Teilen Bornos, in denen die Kanuri weiter dominieren, hätten die Extremisten nur geringe Chancen, betont Cyffer. Unter ihnen sei der Islam bereits seit 1000 Jahren verwurzelt, kaum einer unterstütze Boko Haram. Ihr religiöses und traditionelles Oberhaupt, der Shehu von Borno, stehe für Toleranz. "Die Religion war hier nie ein Hindernis, das getrennt hat", weiß Cyffer aus eigener Erfahrung. 2005 bekam der Afrikanist als erster Nicht-Muslim und Europäer vom Shehu einen traditionellen Titel verliehen.

Wie Gerhard Müller-Kosack so sieht auch Norbert Cyffer die Ausbreitung radikaler muslimischer Strömungen unter erst in jüngerer Zeit islamisierten Gruppen der Bevölkerung als eine Ursache dafür, dass eine so extreme Ideologie wie die von Boko Haram hier Fuß fassen konnte. Die entwurzelte Jugend, die ihr Glück in der Großstadt Maiduguri gesucht habe, sei enttäuscht worden, so Cyffer. Arbeitslos und ohne Perspektive müsse sie den wenigen zusehen, die Anteil am Wohlstand haben.

Wissenschaft aus zweiter Hand

Norbert Cyffer mit nigerianischen Kollegen (Foto: privat)
Norbert Cyffer (Mitte) kann sich mit seinen Kollegen aus Maiduguri nur noch in Wien treffen.Bild: Privat

Eine weitere Folge des Terrors: Die ausländischen Wissenschaftler sind inzwischen ausschließlich auf Informationen von einheimischen Kollegen und Kontaktpersonen angewiesen. Selbst können sie heute nicht mehr in die Region reisen. "Besonders als weißer Wissenschaftler sind sie überall erkennbar. Niemand, der bei Sinnen ist, würde jetzt in die Grenzregionen reisen", klagt Gerhard Müller-Kosack. Den nigerianischen Wissenschaftlern von der Universität in Maiduguri geht es kaum anders. "Meine dortigen Kollegen trauen sich kaum noch zum Einkaufen auf den Markt", berichtet Norbert Cyffer.