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Brasilien heute – portugiesischer geprägt als viele denken

15. März 2010

Am 7. September 1822 erklärte Brasilien seine Unabhängigkeit. Portugal erkannte diese allerdings erst im Jahr 1825 an. Der Einfluss der früheren Kolonialmacht ist auch knapp 200 Jahre danach deutlich spürbar.

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Bild: AP Graphics/DW Fotomontage

Man sitzt in São Paulo, der Gastronomie-Hauptstadt des Tropenlandes, in einem der vielen vortrefflichen Restaurants und lässt sich eine Feijoada, das berühmte Nationalgericht aus Bohnen und mehreren Dutzend köstlichen Zutaten, schmecken. Die Brasilianer an den Nebentischen hören gerne das Lob der "Gringos" aus Europa und klären einen darüber auf, dass diese ausgefeilte kulinarische Spezialität ursprünglich das armselige Essen der afrikanischen Sklaven war. Die hätten in ihren Bohneneintopf alles hineingemischt, was die Sklavenhalter als Abfall übrig ließen, darunter Schweinsohren, Rüssel und Schwanz, alle möglichen Tier-Innereien.

Selbst Samba portugiesisch

Brasilianische Show Born to Samba
Samba meets Fado - Portugal ist überallBild: Sven Creutzmann

Falsch - sagen kundige Brasilianer, und erst Recht jene unzähligen Portugiesen, die bis heute in der Landesgastronomie den Ton angeben. "Die Feijoada stammt im Grunde aus Portugal, ähnelt portugiesischen Gerichten, von denen es in Brasilien eine ganze Menge gibt", betont auch der in Portugal geborene Schriftsteller und Kulturwissenschaftler João Alves das Neves, der seit langem in São Paulo lebt. "Es ist kaum zu fassen - die über 190 Millionen Brasilianer haben keinen Begriff davon, wie portugiesisch sie bis heute geprägt sind."

Dann nennt Neves ganz erstaunliche Beispiele und lässt serienweise Brasilienklischees zusammenstürzen. Ein Großteil der brasilianischen Populärmusik zum Beispiel habe gar keine afrikanischen Wurzeln, wie immer behauptet wird, sondern portugiesische. "Die Volksmusik Südbrasiliens ist der von Portugal beinahe zum Verwechseln ähnlich - und selbst der brasilianische Karneval, die berühmten Sambaschulen, haben portugiesische Ursprünge." Und dann setzt Neves noch einen drauf: "Ja - selbst im Samba, in den Trommelrhythmen steckt Portugiesisches."

Man will sich daraufhin spontan an den Kopf greifen, den Mann unsäglicher Übertreibung bezichtigen, erinnert sich aber rechtzeitig daran, dass die allermeisten Sambas in der Tat so melancholisch-trist und in Moll komponiert sind wie der portugiesische Fado. Jahr für Jahr belegen Studien: Die meisten Brasilianer, auch die jungen, mögen langsame, sentimentale bis ultraromantische Titel der Sertaneja- und Caipira-Musik des bäuerlichen Hinterlands viel mehr als hektisch-aufgeregte Stücke nach Art der immer schnelleren, marschähnlichen Karnevalssambas. Und Samba, vor allem der feurige, gab in Brasilien noch nie musikalisch den Ton an - im Unterschied zu den Sertaneja-und Caipira-Klängen.

"Tausenderlei in Brasilien hat portugiesische Wurzeln!"

Prozession in Brasilien - Grossbilder
Prozessionen in Brasilien - die Kolonialmacht lässt grüßenBild: AP

Der brasilianische Weinbau wird immer den italienischen Einwanderern zugeschrieben. Kulturexperte Neves korrigiert, da seien seit jeher Portugiesen federführend. Auch im Religiösen sieht er den afrikanischen Einfluss übertrieben dargestellt. Denn im größten katholischen Land der Welt komme diese ganz spezielle Volksfrömmigkeit mit ihren bis heute die Massen mobilisierenden Festen und Prozessionen natürlich eindeutig aus Portugal. "Tausenderlei in Brasilien hat portugiesische Wurzeln!"

Anpassungs- und Improvisationsfähigkeit, das problemlose Aufgehen in ethnischer Vielfalt halten sich viele Brasilianer zugute und weisen dabei gerne kritisch auf andere Nationen, sogar auf Portugal. Das habt ihr von uns, reagieren darauf viele Portugiesen. Ciça Marinho, eine portugiesische Psychologin und Sängerin in São Paulo, räumt indessen selbstkritisch ein, dass auch der berühmte brasilianische "Jeitinho", also das Erreichen von Vorteilen jeder Art durch Tricks und listiges Umgehen sozialer Normen und Regeln (ob in Politik oder Wirtschaft), einst aus Portugal importiert wurde.

Portugiesen in Brasilien erfolgreicher als zu Hause

Custodio Pereira Diektor der Hochschule Rio Branco in Sao Paulo Brasilien
Custodio Pereira, Direktor der Hochschule 'Rio Branco' in Sao PauloBild: DW/Klaus Hart

Custodio Pereira kam als Kind mit seinen Eltern nach Brasilien, war Wagenwäscher, Hilfsarbeiter - und ist heute Direktor der angesehenen Hochschule "Rio Branco" in São Paulo, zudem Ehrenbürger der Megacity, Vorsitzender verschiedenster Gremien im Bildungs- und Wirtschaftssektor. Er bestätigt, dass man sich in einem so komplexen Land wie Brasilien vor Vereinfachungen hüten muss und dem äußeren Erscheinungsbild nie trauen sollte.

"Nicht nur in São Paulo tragen viele Restaurants italienische Namen - doch die Betreiber sind Portugiesen! Auch Bäckereien sind in Brasilien weiterhin traditionell meist in portugiesischer Hand. Wir formen also nach wie vor den Geschmack der Brasilianer, die auch zu Hause mehr typisch portugiesische Speisen vertilgen, als ihnen bewusst ist. Brasilien zeigt, dass wir Portugiesen im Ausland mehr Erfolg haben als zu Hause." An prosperierenden Unternehmen, gar portugiesischen Multis, mangele es hier nicht.

Wunder Punkt oder einfach nur lustig: die Portugiesenwitze

Fußball-EM 2004: Jubelnde Portugiesen
Beliebtes Opfer von Witzen jeder Art: die PortugiesenBild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Ungefragt kommt auch Hochschul-Direktor Pereira auf einen wunden Punkt des brasilianisch-portugiesischen Miteinanders, die "Piadas do Portugues", Portugiesenwitze, zu sprechen. Nach Art der Ostfriesenwitze werden die Lusitaner dermaßen durch den Kakao gezogen und zu Deppen erklärt, dass viele tief getroffen sind oder sich immer wieder auf die Palme bringen lassen. "Die Portugiesenwitze sind eine Art späte Rache an den Kolonisatoren, wegen all der Unterdrückung", meint Psychologin Ciça Marinho, „da zeigen sich Vorurteile, werden wir stigmatisiert."

Direktor Pereira nimmt es etwas leichter, in gleicher Weise zögen doch die Schweden über die Norweger oder die Engländer über die Schotten her. "Diese Portugiesenwitze sind wirklich ein starkes Stück – wir müssen einfach lernen, damit umzugehen und zu leben". In Wahrheit richteten sich doch die Schmähungen gegen jene ganz simplen, kaum gebildeten, bäuerlichen Einwanderer der Kolonialzeit, die es längst nicht mehr gebe. "Ich glaube, die Witze werden etwas weniger, weil immer mehr Brasilianer die portugiesische Staatsbürgerschaft beantragen und mit unserem Pass dann freien Zugang zur gesamten Europäischen Union haben. Und dies bewirkt, dass sich Brasilianer auf einmal ihrer so vorteilhaften portugiesischen Wurzeln besinnen, mehr und mehr stolz darauf sind."

Abends, auf TV Globo, lässt sich der beliebteste brasilianische Talk-Moderator Jo Soares nicht zweimal bitten, eine "Piada do Portugues" zum besten zu geben: Eine Portugiesin kommt mit einem Baby auf dem Arm in einen Laden und fragt die Angestellte, ob es eine Personenwaage nur für Kleinkinder gebe. Die Angestellte verneint und schlägt vor: "Wir wiegen auf der Erwachsenen-Waage zuerst Mutter und Kind zusammen, dann die Mutter allein – und ziehen ihr Gewicht einfach ab!" Die Portugiesin winkt bedrückt ab. "Das geht leider nicht." Aber wieso denn nicht, bohrt die Angestellte nach. "Ich bin doch nicht die Mutter, nur die Tante."

Autor: Klaus Hart

Redaktion: Oliver Pieper