1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Buchhalter Auschwitz

Wolfgang Dick17. April 2015

Am Dienstag wird vor dem Landgericht Lüneburg der Prozess gegen einen 93-jährigen eröffnet, der SS-Mann im Vernichtungslagers Auschwitz war. Der Anwalt der NS-Opfer und Angehörigen, Thomas Walther, im DW-Interview:

https://p.dw.com/p/1FA1w
Gefangene hinter dem Stacheldraht von Auschwitz am Tag ihrer Befreiung am 26.1.1945, historisches Foto
Bild: picture-alliance/dpa/akg-images

Deutsche Welle: Herr Walther, gegen den Angeklagten Oskar Gröning wurde bereits 1977 von der Staatsanwaltschaft Frankfurt ein Verfahren eingeleitet, das nach langen Ermittlungen 1985 schließlich eingestellt wurde. Wie kommt es zu dem neuen Verfahren nach so langer Zeit?

Thomas Walther: Die Wende brachte 2011 das Verfahren gegen den ehemaligen KZ-Wächter John Demjanjuk in München. Bis dahin galt eine alte juristische Doktrin, die besagte, dass nur gegen diejenigen Anklage erhoben werden konnte, die nachweislich in irgendeiner Weise eigenhändig und ganz, ganz nah am Tötungsprozess beteiligt waren. Ich konnte im Fall Demjanjuk dazu beitragen, dass nunmehr jede Form einer Unterstützung dieser Todesmaschinerie als eine strafrechtlich relevante Beihilfe zu Mord betrachtet wird. Wir konzentrieren uns dabei nicht auf den gesamten Holocaust, sondern auf die Haupttat, die Deportation von ungarischen Juden nach Auschwitz, von denen 300.000 dort ermordet wurden. Ich muss jetzt nur noch nachweisen, dass der Angeklagte an irgendeiner Stelle dieser Haupttat tätig war.

Warum sollte die Anklage dieses Mal tatsächlich zu einer Verurteilung führen ?

Meine Hoffnung ist dadurch begründet, dass die Anklage hervorragend formuliert ist. Außerdem liegen die rechtlichen Fragen derart deutlich auf der Hand, dass ernsthaft kein Jurist daran Zweifel hegt, dass es hier auch zu einem Urteil kommt. Der konkrete Tatvorwurf betrifft zwei Punkte. Zum einen hat Gröning in der Gefangeneneigentumsverwaltung das Geld der Juden eingesammelt, gezählt und nach Berlin gebracht. Und er hatte eine zweite Aufgabe, die sich auf der Rampe abspielte, an der die Züge ankamen. Bevor die nächsten Züge mit Deportierten ankamen, mussten, um die nächsten Selektionsprozesse zu gewährleisten, von den Rampen Koffer, Kleider, Sterbende und Tote aus vorherigen Zügen beseitigt werden. Das war Aufgabe der Einheit von Gröning. Dazu gibt es auch Bestätigungen seiner Vorgesetzten.

Thomas Walther
"Opfer und Angehörige wollen gehört werden": Thomas Walther, Vertreter von 31 NebenklägernBild: privat

In früheren NS-Prozessen leugneten Angeklagte ihre Beteiligung oder versuchten mit juristischen Kniffen einer Verurteilung zu entkommen. Wie verhält sich bisher der 93-Jährige Oskar Gröning ?

Ich bin aufgrund seines bisherigen Verhaltens davon überzeugt, dass Gröning sich mit seinem Verteidiger ganz anders präsentieren wird als Herr Demjanjuk mit seinem damaligen Verteidiger in München. Es liegen überhaupt keine Anzeichen dafür vor, dass da Schauspielkunst im Gerichtssaal erprobt werden muss. Gröning wird möglicherweise eine Gehhilfe benutzen, er ist geistig aber völlig auf der Höhe. Er leugnet auch nicht, in Auschwitz gewesen zu sein. Er leugnet nicht den Holocaust. Die einzige Einwendung ist: Er sieht seinen Anteil daran juristisch nicht als strafrechtliche Beihilfe. Bestimmte Vorgehen auf der Rampe werden minimiert. Er hat zum Beispiel vortragen lassen, dass er nur darauf geachtet habe, dass niemand aus den Gepäckstücken auf der Rampe irgendetwas entwendet.

Die Anklage lautet auf Beihilfe zum Mord an 300.000 Menschen. Wird Gröning seine Schuld anerkennen?

Wie weit seine Einlassung gehen wird und wie weit er auch in einem strafrechtlichen Sinne seine Schuld einräumen wird, weiß ich nicht. Ich rechne damit, dass er doch in einem relevanten Umfang von moralischer Schuld sprechen wird. Das ist aber nicht strafbar. Und dann wird es darauf ankommen, wie sich seine eigene Überzeugung in der Zeit dieses Verfahrens (Anm. der Redaktion: bis Ende Juli) eventuell wandelt und ob er später doch noch zu der Erkenntnis kommen könnte, dass es unter Umständen gar nicht so nachteilig für ihn werden würde, wenn er insgesamt seine Tatbeteiligung und seine strafrechtliche Schuld eingesteht. Wenn das geschieht, ist es ein absolut singulärer Einzelfall. Das ist zuvor noch nie geschehen. (Anmerkung der Redaktion, 21.04.2015: Gröning räumte am ersten Prozesstag eine Mitschuld ein. "Für mich steht außer Frage, dass ich mich moralisch mitschuldig gemacht habe", erklärte er den Richtern. "Ich bitte um Vergebung. Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden." Der mittlerweile 93-Jährige gab zu, unmittelbar nach seiner Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz im Jahr 1942 von der Vergasung der Juden erfahren zu haben.)

Sie vertreten 31 der über 60 Nebenkläger. Welche Schicksale mussten sie erleiden?

Ich habe einen Mandanten, der hatte acht, ein anderer, der hatte neun Geschwister gehabt, die alle - ohne Ausnahme - nach der Ankunft in Auschwitz ermordet wurden, genauso wie die jeweiligen Eltern dazu. Dass eine Großfamilie von neun oder zehn Personen innerhalb von zwei Stunden auf einen 14-jährigen Jungen reduziert werden konnte, das ist ein Schicksal.

In einem Fall war der Sohn im Alter von vierzehn Jahren schon mit dem Vater auf der Seite, auf der die Menschen zur Arbeit in das Lager Birkenau geführt wurden. Dann hat sich der Junge unter den Bahnwaggons hindurch geschmuggelt, um bei seiner Mutter zu bleiben. Diese war mit kleineren Geschwistern auf der Seite gewesen, auf der die Menschen zur Vergasung geführt werden sollten. Das war das erste Mal, dass seine Mutter ihn fürchterlich angebrüllt hat, er solle sofort zurück gehen. Du bist ein Mann, geh da rüber. Der Junge ist dann tatsächlich zum Vater zurück. Nur dadurch hat er überlebt.

Ich habe in Kanada Video-Interviews gemacht. Ein 87-Jähriger jüdischer Geschäftsmann, der geschäftlich außerordentlich erfolgreich in seinem Leben war, sitzt mir gegenüber und erzählt davon, dass er jeden Morgen, wenn er aufwacht, das Bild seiner Eltern und seiner Schwester mit 11 Jahren sieht und zwei Minuten später bricht dieser Mann in Tränen aus. Das wiederholt sich dann auch und er erklärt mir, dass kein Tag vergeht, an dem er diesen Verlust und diesen Schmerz und diese Trauer nicht immer wieder wie ein ins Herz gerammtes Messer in sich spürt. Das geht seit 70 Jahren so.

Prozessort in Lüneburg - die Ritterakademie von außen.
Aufgrund großem Medieninteresse am Prozess angemietet: die Ritterakademie in LüneburgBild: picture-alliance/dpa/P. Schulze

Was erwarten die Opfer der Gräueltaten von diesem Prozess ?

Die Strafe spielt für die Betroffenen keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die Nebenkläger erwarten, dass vor dem deutschen Gericht ihren ermordeten Angehörigen eine Stimme, ein Gesicht, eine Menschenwürde durch die angemessene Behandlung dieses Teils des Verfahrens zurückgegeben wird. Wichtig ist ihnen, dass das Gericht und die deutsche Justiz ihnen zuhört, dass vielleicht auch ein Dialog mit dem Angeklagten entstehen könnte und dass nach all dieser Zeit eine Antwort der Justiz im Sinne der Gerechtigkeit erfolgt.

Wie erleben Sie die Anteilnahme der Deutschen im Vorfeld dieses Prozesses?

Ich erlebe das durchaus positiv. In dem Sinne, dass Medien und Medienvertreter, nicht nur weil sie die Aufgabe haben, darüber zu berichten, sondern weil sie, wie viele Menschen im Gespräch, echte Empathie und Zuwendung zeigen. Einige Leute fragen sich, was das alles denn noch nach all den Jahren soll. Wenn man dann aber mit ihnen spricht und wenn sie zuhören, ergibt sich doch relativ schnell, dass das doch verstanden wird. Wenn man nicht einfach nur nach einem Schlussstrich fragt, wenn man konkret über diese Vorgänge im KZ spricht, dann erlebe ich kaum ein erkennbares Nicht-Verstehen oder ein Nicht-Akzeptieren. Vor allem junge Leute nehmen großen Anteil, wie meine Gespräche in Schulen und Universitäten gezeigt haben.

Thomas Walther ist Rechtsanwalt in Kempten (Allgäu). Seit 2006 ist er in die Arbeit der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg eingebunden und gewann dabei auch viele wichtige Einsichten zur Vorbereitung des anstehenden Prozesses.

Das Gespräch führte Wolfgang Dick.