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Widerstand auf Brasilianisch

Astrid Prange10. April 2014

Massenproteste haben in Brasilien Tradition. Vor 30 Jahren trieb die Sehnsucht nach freien Wahlen Millionen Menschen auf die Straße. Die Bewegung versetzte der langjährigen Diktatur im Land den endgültigen Todesstoß.

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Demonstration für freie Wahlen 1984 in São Paulo (Foto: Jorge Henrique Singh)
Massendemonstration für freie Wahlen am 16. April 1984 in São PauloBild: gemeinfrei

"Ich sehe Rio de Janeiro, und meine Seele singt". Die Erinnerung an diesen Vers trieb Brasiliens Staatspräsidentin Dilma Rousseff kürzlich die Tränen in die Augen. Denn nicht nur ihre Seele sang, als vor 30 Jahren das Ende der brasilianischen Militärdiktatur (1964 bis 1985) absehbar war.

Millionen Menschen gingen 1984 im ganzen Land auf die Straße, um freie Wahlen einzufordern. Bei einer der größten Kundgebungen der Bewegung "Diretas Já" ("Freie Wahlen Jetzt") versammelten sich am 10. April 1984 im Zentrum von Rio de Janeiro mehr als eine Million Menschen vor der Kathedrale "Candelária".

Die poetischen Verse über die brasilianische Seele stammen aus dem Bossa-Nova-Klassiker "Samba de Avião" von dem Komponisten Antonio Carlos Jobim. In Kreisen des Widerstands gilt das Lied als eine Hymne an die vielen Exilbrasilianer, die nach der Amnestie 1979 in ihre Heimat zurückkehrten. Zu ihnen gehörten auch die beiden Musiker Gilberto Gil und Caetano Veloso, die mit ihren Protestliedern die Demokratiebewegung unterstützten.

Verwundete Seelen

"Ich bin sicher, dass ihre Seelen bei der Landung in Rio gesungen haben", sagte Staatspräsidentin Rousseff, die selber im Widerstand aktiv war, in der vergangenen Woche bei einer offiziellen Zeremonie am Flughafen von Rio de Janeiro. Die Exilbrasilianer hätten der größten zivilgesellschaftlichen Demokratiebewegung des Landes neue Schubkraft verliehen.

Gilberto Gil während einer PK zur Copa a Cultura 2006 (Foto: AP Photo/Markus Schreiber)
Der brasilianische Sänger Gilberto Gil kehrte 1972 aus dem Londoner Exil zurückBild: AP

Der Wunsch nach freien Wahlen brachte bereits im Jahr 1983 viele Brasilianer noch während der Diktatur auf die Straße. Doch 1984 bekam die Bewegung "Diretas Já" immer mehr Zulauf. Am 25. Januar 1984 versammelten sich im Stadtzentrum von São Paulo mehr als eine Million Demonstranten. Am 16. April kam es in der Metropole erneut zu Massendemos.

Auf den Podien und Bühnen saßen unter anderem die beiden Männer, die nach dem Ende der Diktatur in den Regierungspalast einzogen: Fernando Henrique Cardoso (1995 bis 2002) und Luiz Inácio Lula da Silva (2003 bis 2010). "Das Ausmaß der Massenproteste hat damals die Anführer der Bewegung selbst überrascht", erinnert sich der mittlerweile 82-jährige Cardoso in einem Interview mit der Tageszeitung "Estadão" in São Paulo. "Das Ende des Autoritarismus war nur noch eine Frage der Zeit".

Die Niederlage wird zum Sieg

Doch zunächst schien der Autoritarismus zu triumphieren. Trotz der riesigen Demonstrationen wurde der Gesetzesantrag auf direkte Wahlen im April 1984 vom brasilianischen Kongress abgeschmettert. Stattdessen nominierte das Regime den moderaten Politiker Tancredo Neves von der Partei für demokratischen Aufbruch (PMDB), der im Bundesstaat Minas Gerais als Ministerpräsident regierte. Neves wurde von einem Wahlgremium zum Präsidenten bestimmt.

Doch kurz vor seiner Vereidigung starb Neves überraschend am 21. April 1985 an den Folgen eines Magengeschwürs. Inmitten der politischen Verwirrung und gesellschaftlichen Schockstarre wurde sein Vize José Sarney verfassungsgemäß zum Staatschef ernannt. Sarney saß damals für die offizielle Regierungspartei der Militärdiktatur, Arena, im brasilianischen Senat. Erst 1984 wechselte er ins oppositionelle Lager der PMDB.

Der Oppositionelle und damalige Vorsitzende der brasilianischen Arbeiterpartei PT, Gilney Viana, erinnert sich an die paradoxe Lage: "Wir haben die Abstimmung im Kongress verloren, doch dafür die Massen gewonnen". Durch den Druck der Straße sei die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung erzwungen und damit das Ende der Diktatur beschlossen worden.

Brasiliens Wahrheitskommission (Foto: Joedson Alves/dpa)
Vergangenheitsbewältigung: Beim Gründungsakt der Wahrheitskommission im Mai 2012 waren neben Staatschefin Dilma Rousseff (Mitte) auch die Ex-Präsidenten José Sarney, Luiz Inácio Lula da Silva (links) und Fernando Henrique Cardoso (zweiter von rechts) anwesendBild: picture-alliance/dpa

"Erhaben und diszipliniert"

Danach ging alles Schlag auf Schlag: 1985 wurde die verfassungsgebende Versammlung einberufen. Drei Jahre später, im Oktober 1988, wurde das neue brasilianische Grundgesetz, eine der fortschrittlichsten Verfassungen in Lateinamerika, feierlich verabschiedet. Am 15. November 1989 fanden in Brasilien 25 Jahre nach dem Militärputsch die ersten freien Wahlen statt.

Für den brasilianischen Schriftsteller Zuenir Ventura ist die Rückkehr Brasiliens zur Demokratie vor 30 Jahren eines der schönsten Kapitel der Geschichte des Landes. "Mit der Bewegung "Diretas Já" ist die Hoffnung zurückgekommen", schreibt er in einer Kolumne für die Tageszeitung "O Globo". "Das Volk hat friedlich und diszipliniert für Demokratie demonstriert. Diese Erhabenheit lässt sich mit Protesten von heute nicht vergleichen".