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Wenn Dichter auf die Barrikaden gehen

Birgit Görtz, Inna Zavgorodnya17. Dezember 2013

Das politische Engagement deutscher Künstler hält sich oft in Grenzen. Nicht so in der Ukraine. Bei den Protesten auf dem Maidan gehören sie zu den Wortführern.

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Serhij Zhadan
Der ukrainische Dichter Serhij Zhadan auf dem Euromaidan in KiewBild: DW/T.Davydenko

"Was ich toll finde in der Ukraine: Da sagen mir meine Freunde, ich habe keine Zeit für ein Gespräch, ich muss demonstrieren gehen", sagt Max Czollek, ein junger Dichter aus Berlin. Er war im Spätsommer als Stipendiat zu Gast in Chernivtsi, einer kleinen Stadt in der Westukraine, die unter Lyrik-Fans einen großen Namen hat. Zu seinen Freunden hält er derzeit vor allem über die sozialen Netzwerke Kontakt, denn zum Telefonieren haben sie momentan keine Zeit. "Alle Autoren, die ich kenne, sind in Kiew, auch wenn sie irgendwo anders leben, im Ausland studieren. Sie sind alle auf dem Maidan. Mein guter Freund, Andrij Ljubka, sagt, es gibt keinen Autor, der etwas auf sich hält und der nicht gerade in Kiew ist." Ljubka ist einer jener jungen Lyriker, gerade mal 26 Jahre alt, der momentan wenig Zeit zum Telefonieren hat.

Ganz nah dran an den Leuten

Den Dichter Serhij Zhadan, Jahrgang 1974, hält es aktuell auch nicht am Schreibtisch. Viele seiner Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Schon 2004, bei der Orangenen Revolution, war er einer der intellektuellen Wortführer. Und jetzt beim "Euromaidan", wie die Proteste von 2013 genannt werden, ist er wieder vorn dabei. "Wenn die Leute wirklich Veränderungen für dieses Land wollen, müssen sie verstehen, dass wir das nur über aktiven Widerstand erreichen können", ist Zhadan überzeugt. Das funktioniere nur, wenn man auf die Straße gehe, an den Meetings teilnehme und seine Meinungen vertrete. "Im Büro zu sitzen, zu Hause am Computer - damit erreicht man nichts."

Sie harren trotz klirrender Kälte aus: Die Demonstranten auf dem Maidan (Foto: DW)
Sie harren trotz klirrender Kälte aus: Die Demonstranten auf dem MaidanBild: DW/A. Sawizki

Die Intellektuellen in der Ukraine haben einen ganz anderen Stellenwert als hierzulande. Sie sind so etwas wie ein Sprachrohr der Gesellschaft, sagt Max Czollek."Hier in Deutschland kriegt man die Leute gerade mal dazu, eine Petition zu unterschreiben." Es ist schwer vorstellbar, dass sich deutsche Autoren in Berlin auf den Oranienplatz begeben und mit den Flüchtlingen den Platz besetzt halten." Er meint die rund einhundert Flüchtlinge, meist aus afrikanischen Ländern, die seit über einem Jahr gegen die deutsche Asylpolitik demonstrieren, zuerst am Brandenburger Tor und nun auf dem Kreuzberger Oranienplatz. "Es ist mittlerweile schon zum klassischen Lamento über die deutsche Autorenszene geworden, dass es keine Form des engagierten Intellektuellen gibt." So gesehen, findet Czollek, beweise die Ukraine, dass sie in Sachen politisches Engagement näher dran sei an den europäischen Idealen wie Partizipation und Zivilgesellschaft als die meisten Staaten im Kern Europas.

Kosmetische Veränderungen reichen nicht

Serhij Zhadan wirkt geradezu euphorisiert von dem, was sich gerade in seiner Heimat tut: "In der Ukraine spielt sich eine Revolution ab. Ich sehe das mit großer Begeisterung. Ich denke, das ist unsere Chance, dieses Land zum Besseren zu verändern." Die Menschen wollten tiefgreifende Veränderungen des politischen Systems. "Es reicht nicht, den einen Premierminister durch einen anderen zu ersetzen, einen Innenminister zu entlassen, um dann den Posten mit einem Geschäftspartner zu besetzen." Diese Art von Politik beraube das Land und seine Menschen jeglicher Entwicklungsmöglichkeiten, sagt er.

Max Czollek (li.) und sein Freund Andrij Ljubka bei einem gemeinsamen Auftritt (Foto: DW)
Max Czollek (li.) und sein Freund Andrij Ljubka bei einem gemeinsamen AuftrittBild: DW/B.Görtz

Zhadan sieht seine Landsleute in einem politischen Reifungsprozess. Sie seien dabei, eines zu verstehen. "Nämlich, dass man seine Probleme nicht an jemanden abgeben kann, vor allem nicht an Politiker. Man muss selbst aktiv teilnehmen, am Schicksal des Landes teilhaben - und zwar ständig." Auch Max Czollek glaubt, dass es um mehr gehe als nur die Frage, wie der Premierminster heiße: "Ich denke, dass es den Leuten, die auf dem Maidan-Platz ausharren, um einen Paradigmenwechsel geht. Ich glaube auch, dass die Proteste noch eine Weile andauern und nicht abflauen, so wie Präsident Janukowitsch das zu hoffen scheint."

Es geht um Grundlegendes

Es geht also um nichts weniger als die Veränderung der politischen Kultur und eben nicht nur um die Frage: Wohin tendiert die Ukraine? Zur Europäischen Union oder zu Russland? "Die Mehrheit der Ukrainer fordert Veränderungen. Die Menschen wollen in einem anderen Land leben", ist sich Serhij Zhadan sicher. "Die europäische Integration ist eher so etwas wie ein Anlass, der sich geboten hat."

Proteste in Kiew am 14.12.2013 (Foto: DW)
Beim Euromaidan geht es um die Selbstverortung der UkraineBild: DW/R. Goncharenko

"In der Ukraine geht es um etwas Grundlegendes. Es sind immer noch die Prozesse, die seit der Wende 1989 laufen, Prozesse der Selbstverortung." Die Ukraine sei immer noch dabei, eine Position zu bestimmen, und die sei alles andere als klar. Es klingt fast schon so etwas wie Bewunderung in Max Czolleks Stimme mit, wenn er sagt: "Was müsste passieren, dass die Leute in Deutschland auf die Straße gehen? Wahrscheinlich müsste dazu die Wirtschaftskrise hier ankommen. Und wer weiß, ob es den Demonstrantinnen und Demonstranten dann um mehr Demokratie gehen wird." Er ist überzeugt, dass erst dann hierzulande die Menschen für ihre politischen Überzeugungen auf die Straße gehen würden.