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Erzwungene Migration

Claudia Witte17. Oktober 2012

Migration ist ein fester Bestandteil des modernen Lebens. Aber nicht jede Migration geschieht freiwillig. Der Weltkatastrophenbericht 2012 wirft ein Schlaglicht auf Menschen, die keine Wahl hatten.

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Frauen in einem Flüchtlingscamp im Norden Malis (Foto: AHMED OUOBA/AFP/GettyImages)
Bild: AHMED OUOBA/AFP/GettyImages

Sie fliehen vor Kriegen, vor Naturkatastrophen und vor Umweltzerstörung - weltweit gibt es mehr als 72 Millionen Zwangsvertriebene. Jeder hundertste Mensch hat demnach seine Heimat unfreiwillig verlassen. Zu dieser Feststellung kommt die Internationale Rotkreuzföderation (IFRC) in ihrem Weltkatastrophenbericht 2012. Erzwungene Migration sei ein wachsender Trend, erklärt Matthias Schmale, der stellvertretende Generalsekretär der IFRC. "Wir benutzen das Wort 'erzwungen', weil die mehr als 70 Millionen Menschen wirklich keine andere Wahl haben. Sie mussten ihre ursprüngliche Heimat aufgeben und suchen ein besseres und sicheres Leben."

43 Millionen Menschen sind durch bewaffnete Konflikte zu Flüchtlingen geworden. Sie haben jenseits der Landesgrenzen Schutz gesucht oder sind zu Binnenflüchtlingen geworden, also zu Flüchtlingen innerhalb des eigenen Landes. Weitere 15 Millionen Menschen sind durch Naturkatastrophen entwurzelt worden. Sie sind mit dem Leben davon gekommen, haben aber sonst alles verloren.

Katastrophenjahr 2011

Klimaflüchtlinge die vorübergehend über einem Deich wohnen in Bangladesch (Foto: Displacement Solutions)
Auch in Bangladesch gibt es viele KlimaflüchtlingeBild: Scott Leckie

Für das Jahr 2011 registriert die Rotkreuzföderation mit insgesamt 336 Naturkatastrophen vergleichsweise wenige Desaster. Auch die Zahl der Toten liegt mit 31.000 deutlich unter dem Durchschnitt der Vorjahre. Mehr als die Hälfte der Opfer gehen allein auf das Konto des Tsunami, der im März 2011 die nordöstliche Küstenregion Japans verwüstete. Weil die größte Katastrophe des vergangenen Jahres eines der reichsten und industrialisiertesten Länder der Erde getroffen hat, liegen die entstandenen Schäden mit 365 Milliarden US-Dollar so hoch wie nie zu vor.

Die heimlichen Entwicklungsverlierer

Der Weltkatastrophenbericht nennt eine weitere Gruppe unfreiwilliger Migranten, die vielfach übersehen wird: Menschen, die durch Entwicklungsprojekte heimatlos geworden sind. Wann immer ein Staudamm gebaut oder ein Slum abgerissen wird, müssen Menschen weichen. Auch Landenteignungen für den Bergbau und die kommerzielle Landwirtschaft führen zu erzwungener Migration.

Das Problem sei "enorm", sagt das Rote Kreuz. Mindestens 15 Millionen Menschen, wahrscheinlich aber deutlich mehr, seien betroffen. Man könne sie mit Fug und Recht als "heimliche Verlierer" der Entwicklung bezeichnen. Oft stünden mächtige Wirtschaftsinteressen hinter ihrer Vertreibung. Regierungen zeigten in der Regel kein Interesse an der Erhebung von exakten Daten zu Zwangsumsiedelungen, egal ob es sich um China, Indien, Kolumbien oder Äthiopien handle. Vielen Betroffenen geht es laut Weltkatastrophenbericht nach der Zwangsumsiedlung schlechter als zuvor. Oft seien es die Reichen, die von Entwicklungsprojekten profitierten, während die Armen die Kosten zu tragen hätten.

Mann und Frau laufen mit Mundschutz durch zerstörtzes Gebiet in Japan (Foto: AP Photo/Shizuo Kambayashi)
Viele Japaner mussten nach dem Unglück von Fukushima ihr Haus verlassenBild: AP

Die Rotkreuzföderation möchte aber auf keinen Fall als entwicklungsfeindlich dastehen und deshalb stellt Matthias Schmale klar: "Der Weltkatastrophenbericht erhebt keine Einwände gegen Entwicklungsprojekte. Er fordert vielmehr, dass die humanitären Folgen von Entwicklungsprojekten für die Betroffenen richtig gehandhabt werden müssen."

Mehr als nur ein Dach über dem Kopf

Bei erzwungener Migration kann es sich zwar um eine vorübergehende Lebensphase handeln, aber das ist längst nicht immer der Fall. 20 Millionen Vertriebene sind heute dauerhaft auf der Flucht. Oft ist es eine Kombination von Faktoren, die sie entwurzelt hat und sie an einer Rückkehr hindert. So wie es etwa in Somalia der Fall ist, wo Bürgerkrieg und Dürre die Menschen aus ihrer Heimat vertrieben haben.

Früher oder später stelle sich bei allen Langzeit-Vertriebenen die Frage der Integration, sagt Matthias Schmale. Auf Dauer reiche es nicht aus, den Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf, Nahrung und Schulbildung für die Kinder bereitzustellen. Der Wunsch der Migranten nach einer Lebensperspektive stoße aber nicht unbedingt auf Verständnis. "Vor allem bei langwierigen Flüchtlingssituationen sehen wir immer wieder Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen denjenigen, die neu an einem Ort ankommen und der aufnehmenden Gemeinschaft." Hier gehe es um ganz grundsätzliche Fragen von Toleranz und Respekt auf beiden Seiten, sagt Schmale, "sowohl was die Ankommenden angeht als auch ihre Gastgeber".

Mutige Politiker gesucht

Diese schwierige Gratwanderung gelinge aber immer weniger, erklärt Robert Tickner, Generalsekretär des Australischen Roten Kreuzes. "Wir stellen überall in der Welt eine neue Hartherzigkeit fest", sagt der ehemalige Parlamentsabgeordnete. Er fordert Regierungen, Oppositionsparteien und Parlamentarier aller Länder auf, sich auf die humanitären Werte zu besinnen. Politiker würden sich oft fremdenfeindlich geben, um ihre Wahlchancen zu erhöhen. Diese gefährliche Abwärtsspirale müsse man aufhalten. "Manchmal braucht es einfach Mut", sagt Robert Tickner, "um in der öffentlichen Debatte oder im Parlament Angriffe auf Flüchtlinge und Asylbewerber zurückzuweisen."