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Wegschauen für die "sexuelle Revolution"

Greta Hamann11. Oktober 2013

Sex mit Kindern ist zu verurteilen - das ist heute gesellschaftlicher Konsens. Doch wie sah das früher aus? Erste Ergebnisse einer Studie zeigen, dass nicht nur Grüne Pädophilen ein Forum boten.

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Grünen-Parteitag in den 1980er Jahren (Foto: picture alliance)
Bild: picture-alliance/Sven Simon

"Wenn ein kleines Mädchen von fünf oder fünfeinhalb Jahren beginnt, Sie auszuziehen, dann ist das fantastisch. Das ist fantastisch, weil es ein Spiel ist, ein absolut erotisch-manisches Spiel." Heute würde niemand öffentlich solche Sätze von sich geben. Daniel Cohn-Bendit wollte damit im Jahr 1982 nach eigenen Angaben provozieren. Das gelang ihm aber anscheinend nicht, da sich weder in der Talkshow, in der er diesen Satz sagte, noch in der Öffentlichkeit jemand bemerkbar über seine Äußerungen aufregte.

So schildern Franz Walter, Professor für Politikwissenschaft, und sein Mitarbeiter Stephan Klecha die Situation in Deutschland Anfang der 1980er-Jahre. Daniel Cohn-Bendit war damals schon Mitglied der Partei Die Grünen und sitzt bis heute im Europäischen Parlament. Weil auch anderen Parteimitgliedern der Grünen Verständnis für Pädophile vorgeworfen wurde, beauftragte die Partei im Mai die Wissenschaftler Walter und Klecha vom Göttinger Institut für Demokratieforschung mit der Aufarbeitung der eigenen Parteigeschichte.

Franz Walter (Foto: dpa)
Der Politologe Franz Walter soll die Geschichte der Grünen aufarbeitenBild: picture-alliance/dpa

Die ersten Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftler diese Woche in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Sie zeigen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern nicht nur in den Reihen der Grünen, sondern auch in zahlreichen anderen linken und liberalen Gruppierungen toleriert und sogar politisch unterstützt wurden.

So setzten sich die Grünen laut Walter und Klecha im Jahr 1980 bei einer Bundesversammlung dafür ein, Pädophilie zu legalisieren. Die Paragrafen 174 und 176 im Strafgesetzbuch, die sexuelle Handlungen zwischen unter 14-Jährigen und Erwachsenen ausnahmslos unter Strafe stellen, sollten korrigiert werden, so die Forderung der Grünen. Auch Gruppierungen, die der FDP nahestanden, plädierten öffentlich für eine freie Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen.

Pädophilie in der "Zeit des Aufbruchs"

Doch wie konnte es so weit kommen? "Es war eine Zeit des Aufbruchs", erklärt der Psychotherapeut Jürgen Lemke im Gespräch mit der DW das Phänomen. Die Grünen gründeten sich, um gegen konservative Strukturen zu rebellieren: Sexuelle und politische Befreiung, ein neues System und die Abkehr von Autoritäten waren nur einige ihre Forderungen.

Daniel Cohn-Bendit (Foto: dpa)
Heute sind Daniel Cohn-Bendit seine Aussagen von früher nach eigenen Angaben "peinlich"Bild: picture-alliance/dpa

Eva Quistorp war Mitbegründerin der Grünen: "Ich denke, da haben einige weggeguckt, nach dem Motto: Wir zeigen jetzt mal den anderen Parteien, wie alternativ und wie offen wir sind, dass wir endlich die Nazizeit überwunden haben, dass wir der sexuellen Revolution vollkommen freien Raum geben", sagte sie gegenüber der DW.

Auch in den Medien bekamen Pädophile ausreichend Raum, um ihre Neigungen öffentlich kundzutun. So schrieb Olaf Stüben 1979 in der Zeitung 'taz': "Ich liebe Jungs". In einem ganzseitigen Artikel forderte er eine "sexuelle Revolution" und setzte sich für legalen Sex mit Kindern und Jugendlichen ein. Pädophile waren laut Psychotherapeut Jürgen Lemke die "Trittbrettfahrer" dieser Revolution und schafften es, ihren Standpunkt bis in die Wissenschaft zu verbreiten: "Auch die Sexualwissenschaft sollte sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen", so Lemke.

Schwere Folgen für die Opfer

Doch nicht alle ließen sich von der angeblichen "Befreiungswelle" mitreißen. Die Journalistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer setze sich von Beginn an dagegen ein.

Auch sie habe nichts gegen eine freie und offene Sexualität - solange diese nicht auf die Kosten Dritter gehe: "Zwischen Erwachsenen und Kindern gibt es ein Machtgefälle, und wenn man sagt, Erwachsene sollen Zugriff auf kindliche Sexualität haben, dann wird es heikel. Kinder müssen geschützt werden", betont Schwarzer.

Alice Schwarzer (Foto: dapd)
Alice Schwarzer: "Machtgefälle" nicht ausnutzenBild: dapd

Jürgen Lemke therapiert seit mehr als 20 Jahren Opfer von sexuellen Übergriffen. Die Folgen von sexuellem Missbrauch können verschieden sein, erklärt er. Sie reichen von psychischen Störungen über Drogenkonsum bis hin zum Suizid: "Die psychosexuelle Entwicklung dieser Kinder wird durch sexuelle Kontakte mit Erwachsenen durcheinandergebracht. Sie sind in ihrer Entwicklung noch auf dem Weg - und wenn sie gestört wird, kommen die Kinder mit den Folgen oft nicht zurecht."

Später Wertewandel

Die breite politische und gesellschaftliche Akzeptanz und die damit zusammenhängenden politischen Entscheidungen hätten, so Lemke, noch Jahrzehnte zur Verharmlosung von Kindesmissbrauch geführt. Erst jetzt werde der angerichtete Schaden sichtbar. Einen Wertewandel habe es erst nach 2010 gegeben. Damals wurden zahlreiche Missbrauchsfälle - vor allem in der katholischen Kirche - in Deutschland bekannt.

Das Forschungsprojekt von Franz Walter und Stephan Klecha soll Ende 2014 abgeschlossen werden. Dass die beiden bereits jetzt, kurz vor der anstehenden Bundestagswahl, erste Ergebnisse veröffentlichten, nahm die Parteichefin der Grünen, Claudia Roth, allerdings relativ gelassen auf. "Diese Untersuchung ist wichtig für uns als Grüne, aber auch für die bundesdeutsche Gesellschaft insgesamt", meinte Roth.