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Nichtschießen als Ausbildungsziel

Dennis Stute26. August 2014

Deutsche Polizisten greifen nur sehr selten zur Waffe - und das hat Gründe. Kommt es doch einmal zu tödlichen Schüssen, trifft es unverhältnismäßig häufig eine besonders schutzbedürftige Gruppe.

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Schießtraining bei der Polizei (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Sie sind bewaffnet und sie stehen unter Druck. "Der Polizeibeamte kommt zu einer Situation, von der er nicht weiß, wie sie abläuft. Er steht unter Stress - und unter Stress haben wir einen Tunnelblick, eine eingeschränkte Wahrnehmung", sagt Gerd Enkling, Chefausbilder der Polizei in Bayern. Eine Unzahl von Einflussfaktoren bestimme den weiteren Verlauf: Sind Passanten in der Nähe? Ist es heiß? Wird auf den Beamten eingeschrien? Musste er vorher rennen? Kann er Abstand halten? "Solche Situationen sind extrem komplex", sagt Enkling.

Die tödlichen Schüsse auf Michael Brown lösten tagelange Unruhen in Ferguson, Missouri aus (Foto: Reuters)
Die tödlichen Schüsse auf Michael Brown lösten tagelange Unruhen in Ferguson, Missouri ausBild: Reuters

In den USA geht das oft tödlich aus: Mehrere hundert Menschen - verlässliche Zahlen gibt es nicht - werden jedes Jahr von der Polizei erschossen, darunter immer wieder auch Unbewaffnete. In Deutschland dagegen machen Beamte nur sehr selten von der Dienstwaffe Gebrauch: In den vergangenen beiden Jahren gab es jeweils acht Tote, seit 1998 starben 109 Menschen durch Polizeikugeln. Anders als in den USA, wo fast so viele Schusswaffen im Umlauf sind, wie es Einwohner gibt, sehen sich Polizisten in Deutschland kaum je Bewaffneten gegenüber. Auch wenn dies der Hauptgrund für die unterschiedlichen Zahlen ist, erkennen selbst Polizeikritiker an, dass Beamte in Deutschland im Umgang mit Waffen zudem recht umsichtig sind. Seit den 1970er Jahren sei die Zahl der Schüsse auf Personen deutlich zurückgegangen, sagt etwa Otto Diederichsen vom Institut für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit in Berlin: "Da ist einiges passiert, das kann man durchaus positiv werten."

Den Tunnelblick nutzen

In Nordrhein-Westfalen trägt der Waffen-Unterricht der Polizei sein Hauptziel im Namen: "Nichtschießen". In diesen Kursen werden die Polizeischüler zunächst im Umgang mir der Pistole geschult. "Man muss mit dem Gerät umgehen können, das ist kein Spielzeug, sondern lebensbedrohlich", sagt Uwe Thieme, der bei der Polizeiausbildung im bevölkerungsreichsten Bundesland den Bereich "Einsatz und Gefahrenabwehr" leitet. Zielübungen am Schießstand stünden nur am Anfang, danach würden vor allem Stresssituationen trainiert.

Im Berliner Neptunbrunnen wurde im Juli 2013 ein psychisch kranker Mann erschossen (Foto: dpa)
Im Berliner Neptunbrunnen wurde im Juli 2013 ein psychisch kranker Mann erschossenBild: picture-alliance/dpa

Diese Rollenspiele nehmen in allen Bundesländern einen breiten Raum in der zumeist dreijährigen Polizeiausbildung ein. "Wenn wir unter Stress eine eingeschränkte Wahrnehmung haben, greifen wir auf bewährte Taktiken zurück, das macht jeder Mensch", erklärt der bayerische Chefausbilder Enkling. Wenn der Beamte im Training immer wieder geübt hat, nicht gleich zu handeln, sondern sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen und beruhigend mit dem Gegenüber zu reden, stehen die Chancen gut, dass er das auch im Ernstfall schafft.

"Ein bisschen genauer hinsehen"

Trotzdem läuft immer wieder etwas schief - die Todesopfer der vergangenen Jahre waren keineswegs unvermeidlich. Thomas Feltes, Kriminologe an der Ruhr-Universität Bochum verweist etwa auf einen Fall, der sich vor einem Jahr in Berlin ereignete: Dort erschoss ein Polizist einen Mann, der nackt und mit einem Messer bewaffnet in einem Brunnen vor dem Rathaus stand. Der Mann war schizophren. Nach Recherchen des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders RBB waren zwei Drittel der Menschen, die in den vergangenen fünf Jahren durch Polizeischüsse starben, psychisch krank oder der Polizei bereits als psychisch auffällig bekannt. "Vielen Beamten ist nicht bewusst, dass sie es mit psychisch Kranken zu tun haben", sagt der Kriminologe Feltes. "Hier wäre eine bessere Fortbildung der Beamten nötig." Zudem müsse man darüber nachdenken, ob die Polizei in bestimmten Situationen nicht Elektroschock-Pistolen oder Fangnetze einsetzen solle, wie dies etwa in den USA gängige Praxis ist.

Wenn ein Polizist auf einen Menschen - oder auch auf Sachen - schießt, leitet die Staatsanwaltschaft immer ein Ermittlungsverfahren ein. Häufig würden diese Verfahren jedoch zu schnell eingestellt, auch der tödliche Schuss vor dem Berliner Rathaus werde nicht mehr untersucht, sagt Thomas Feltes. "Gerade wenn es um diese Todesschüsse geht, würde mir ich mir wünschen, dass die Staatsanwaltschaften ein bisschen genauer hinsehen."