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Walter Kempowski: "Plankton"

Holger Heimann14. April 2014

Sein Leben lang hat Walter Kempowski Menschen befragt: Bauern, Tischler, Lehrer. Sie erzählen von Kindheit, Mauerfall, Haftzeiten, Ferien. Jetzt erscheint posthum sein interaktives Buch-Projekt "Plankton".

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Walter Kempowski während seiner Lesung beim 23. Poetenfest in Erlangen im Jahr 2003 (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Der Schriftsteller Walter Kempowski (1929 -2007) stammt aus einer Hamburger Reederfamilie. Nach einer Druckereilehre arbeitete er bei der US Army. 1948 wurde er bei einem Besuch in Rostock wegen Spionage-Verdachts verhaftet und zu acht Jahren DDR-Zuchthaus in Bautzen verurteilt. Zeit seines Lebens beschäftigte sich Kempowski mit der deutschen Geschichte. Sein Roman "Tadellöser & Wolff" (1971) machte ihn einem weltweiten Lesepublikum bekannt. Viele seiner literarischen Stoffe wurden verfilmt Sein vierbändiges Werk "Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch" wurde von der Kritik gefeiert.

Der Schriftsteller Walter Kempowski hat uns ein literarisches Vermächtnis hinterlassen: seine überbordende Geschichten-Sammlung "Plankton", die in diesem Frühjahr erschienen ist. Erinnerungen von ganz verschiedenen Menschen aus insgesamt 50 Jahren. Fast 8000 Geschichtensplitter sind in dem Buch versammelt. Für den Autor war das ein nie abzuschließendes Projekt, das auch - nach seinem Tod 2007 - im Netz fortgeschrieben werden soll. Wer auf die Seite geht, kann hier seine eigene Geschichte hinzufügen.

"Ich weiß noch: Das erste, was ich lernte, war das Zählen beim Schließen, wie viele Zellen da überhaupt sind. Und wie viele Schläge von der klötrigen Suppe ausgegeben werden. Da wusste man dann genau, wie viele auf der Zelle liegen. Und an den Stimmen, die man manchmal hörte, ob es Männer oder Frauen waren." Der Zahnarzt, von dem dieser Eintrag in "Plankton. Ein kollektives Gedächtnis" stammt, war Häftling in Bautzen. Das ist ein Teil dieses großen autobiografischen Archivprojektes aus dem Nachlass des Schriftstellers. Die Beschreibung des ehemaligen Häftlings steht neben ganz anderen Erinnerungen, die der unermüdliche Chronist Kempowski zusammengetragen hat. Fast 50 Jahre lang hat er den Menschen, die ihm begegnet sind, unterschiedlichste Fragen gestellt – nach den Eltern, dem Mauerfall, der Begegnung mit Prominenten, nach Kriegserfahrungen oder dem liebsten Spielzeug – und ihre Antworten festgehalten.

Eine Art Summen

Die Erinnerungen an den DDR-Knast in Bautzen ragen heraus aus dem übrigen Alltagsgewimmel, neben manchen Sequenzen aus dem Krieg, die extreme Erlebnisse abbilden. Kempowski selbst saß acht Jahre in Bautzen ein – verurteilt wegen angeblicher Spionage. Und während dieser Zeit machte er eine Erfahrung, die ihn fortan nicht mehr losließ: Als er sich zum ersten Mal außerhalb der Zellentrakte bewegen durfte, drang eine Art Summen an sein Ohr. Es waren die Gespräche der anderen Inhaftierten, wie der Neuling bald bemerkte. Im Vorwort zu einem der "Echolot"-Bände, seinem monumentalen Erinnerungswerk über den Zweiten Weltkrieg, hat Kempowski die Bedeutung des Haft-Erlebnisses beschrieben: "Ich begriff in diesem Augenblick, dass aus dem Gefängnis nun schon seit Jahren ein babylonischer Chorus ausgesendet wurde, ohne dass ihn jemand wahrgenommen oder gar entschlüsselt hätte."

Schreibtisch von Walter Kempowski n seinem Haus in Nartum im Kreis Rotenburg (Foto: dpa)
Denkraum: Der Schreibtisch des SchriftstellersBild: picture-alliance/dpa

Es war eine Art Initiation für Kempowski, der sich fortan dem Sammeln und Bergen von Erinnerungen verschrieb, sei es im vierbändigen "Echolot", in den Familienromanen seiner "Deutschen Chronik" oder jetzt in "Plankton". Doch so nah diese Werke auch beieinander stehen, weil ihnen dasselbe Motiv zugrunde liegt und sie auf denselben Rohstoff zurückgreifen, so unterschiedlich ist doch ihre jeweilige Ausgestaltung. Kempowski selbst hat zu seinen Lebzeiten immer wieder darauf hingewiesen und "Plankton" recht derb als den "Schlamm" bezeichnet, aus dem "Echolot" und "Deutsche Chronik" emporgewachsen sind. Denn während der Autor in den zuvor veröffentlichten Werken das zugrunde liegende Material geordnet und geformt hat, befand sich dieses in "Plankton" gewissermaßen im Urzustand. In seinem Tagebuch hat Kempowski dazu notiert: "Der Zusammenhang der Textkristalle auf allen Ebenen in verschiedenen Aggregatzuständen: 'Plankton' = Schneekristalle / 'Echolot' = verschneite Landschaft / 'Chronik' = Schneemänner."

Schneekristalle

Diese auf über achthundert Seiten niedergegangenen Schneekristalle gehorchen naturgemäß keinerlei thematischer und zeitlicher Ordnung. Im Gegenteil, Kempowski hat jegliche Systematik bewusst sabotiert. Die Reihenfolge der Einträge wurde per Zufallsgenerator festgelegt. Und so steht eine Erinnerung an den Ersten Weltkrieg neben einer anderen vom Mauerfall, die Antwort einer 1919 geborenen Buchhändlerin auf die Frage: "Haben Sie Hitler gesehen?" neben den Gedanken einer fast 60 Jahre später geborenen Schülerin zum Stichwort "Seele".

Buchcover Walter Kempowski: Plankton (2014)
Posthum erschienen: Plankton

Entstanden ist auf diese Weise ein Buch, das vom Chaos regiert wird. Wahllos aneinandergereiht, finden sich zumeist recht banale Notate: "Ich hatte eine Idee, was ich mal werden möchte. Und das hat sich eins zu eins verwirklicht", sagt ein Mann über sein "Glück". Andere, sehr wenige Erinnerungsfetzen jedoch lassen sich zuweilen durchaus als präzise Mentalitätsskizzen lesen, denen literarisches Potenzial nicht abzusprechen ist: "Meine Mutter sagte, wenn es um das Bestrafen ihrer Kinder ging, regelmäßig: 'Ich schlage nie an den Kopf, immer nur an die Beine.' Da war sie ganz stolz drauf. Der Riemen hing an der Tür zur Kellertreppe. Sie hat immer nur um die Beine geschlagen. Und da musste man dann über vier Wochen Lastexhosen tragen, damit niemand die blauen Striemen gesehen hat."

"Plankton fischen"

Es war das Anliegen des 2007 verstorbenen Autors, dass jeder selbst die Möglichkeit erhalten sollte, "Plankton zu fischen", damit sich so der "Plankton-See" weiter vergrößere. Der Knaus-Verlag ist diesem Wunsch nachgekommen: Parallel zu der von Kempowskis langjähriger Mitarbeiterin Simone Neteler betreuten Buchausgabe, hat der Verlag eine eigene Webseite freigeschaltet. Literarisch Interessierte können und sollen dem bestehenden See der Erinnerungen über eine Eingabemaske eigenes Plankton hinzufügen - mithilfe der von Kempowski ausgedachten Fragen. Ein Zufallsgenerator vermischt die Antworten mit den von Kempowski gesammelten Erinnerungen. Das Ergebnis ist eine individuelle Fassung von "Plankton", die sich jeder als Print-on-Demand-Ausgabe ausdrucken lassen kann – als persönliche Erinnerung.

Der Autor Walter Kempowski auf einer Aufnahme aus dem Jahr 1996 (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa