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Vom Pütt ans Kap - das Leben der Miriam Samson

Ludger Schadomsky2. Dezember 2012

Mit dem Dampfer in eine neue Welt: Für die 13-jährige Miriam war das 1937 ein Abenteuer. Aber auch in Südafrika gab es Rassismus - die Opfer waren hier freilich Farbige und Schwarze.

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Miriam Kleineibst mit einem Buch im Hafen von Kapstadt (Foto: DW/Ludger Schadomsky)
Bild: DW/L.Schadomsky

"09.Oktober 1936. Ich sitze hier auf dem Dampfer "Stuttgart" und finde endlich die Zeit und Ruhe, meine Gedanken zu ordnen, und zu überdenken, ob ich Recht daran getan habe, alle Bindungen zu lösen und meine und die Zukunft meiner jungen Familie einem unbekannten Schicksal zu überantworten. Wie wird alles werden?"

Ist es die Anstrengung, die altdeutsche Schrift auf dem vergilbten Briefpapier zu entziffern? Oder sind es doch Gefühlsregungen, die in der Stimme von Miriam Kleineibst spürbar werden, als sie den Brief ihres Vaters entziffert, den dieser von Bord des Dampfers "Stuttgart" auf dem Weg nach Afrika an die in Bochum zurückgebliebene Familie schrieb? Miriam Kleineibst, die damals 13 Jahre alt war, steht in ihrem Wohnzimmer im sechsten Stock der Seniorenresidenz mit dem schönen Namen "Good Hope Park". In der Küche blubbert der Kaffee, dazu es gibt es Kekse. "Park der Guten Hoffnung“ - wie treffend für viele lange Gespräche mit einer jüdischen Emigrantin, die als Teenagerin am anderen Ende der Welt ein neues Leben aufbauen musste.

Von hier oben geht der Blick hinaus auf den Atlantik, der mit Macht an die Klippen von Green Point spült. Green Point und der Schwestervorort Sea Point bilden das jüdische Viertel Kapstadts. Hier finden die aus Litauen, Russland und Deutschland eingewanderten Juden und ihre Nachfahren koschere Metzgereien und Bäckereien, jüdische Schulen und Synagogen.

Miriam Kleineibst im Hafen von Kapstadt (Foto: DW/Ludger Schadomsky)
75 Jahre nach der Flucht: Miriam Kleineibst im Hafen von KapstadtBild: DW/L.Schadomsky

Nachbarschaft im Apartheidstaat

Bei gutem Wetter kann man am Horizont Robben Island sehen, die berühmte Gefängnisinsel, auf der Nelson Mandela mehr als 20 Jahre verbrachte. Südafrikas Anti-Apartheid-Ikone ist ein guter Stichwortgeber für unser Treffen mit Miriam Samson, die heute den Namen ihres zweiten Mannes Günther Kleineibst trägt - auch er ein deutschstämmiger Jude. Mit 21 Jahren kam er aus Berlin ans Kap. Der Blick aus dem Fenster fällt auf den weltberühmten Tafelberg und auf die 2010 zur Fußballweltmeisterschaft erbaute, grandiose Stadionschüssel von Kapstadt. Schnell kommt die Rede auf die Fußballclubs im Pütt, "Schalke-Gelsenkirchen" und Duisburg, und natürlich den VfL Bochum, den Heimatclub der Samsons.

In Bochum betrieben die Eltern eine Schuhmacherei, derweil ein Hausmädchen auf Miriam und den 18 Monate älteren Bruder Klaus aufpasste. Die Bochumer jüdische Gemeinde war liberal, Traditionen wurden in der Familie dennoch hoch gehalten. Die Küche hatte, den religiösen Vorschriften entsprechend, separate Arbeitsbereiche, hier wurde koscher gekocht. Freitag und Samstag gingen die Samsons gemeinsam in die Synagoge. "Und wenn im Frühling die ersten Blumen kamen dann hat mein Vater meiner Mutter einen Strauß gepflückt - sie haben eine glückliche Ehe geführt, und genauso glücklich war meine Kindheit", erinnert sich die rüstige 89-Jährige. Zu dieser Kindheit gehörten Sommerurlaube auf der Insel Spiekeroog und die Besuche bei den Großeltern, Badeausflüge und Schneeballschlachten.

Jähes Erwachen

Mit Hitlers Machtübernahme 1933 endet diese unbeschwerte Kinderzeit jäh. Ab September desselben Jahres dürfen Miriam und ihre Freundinnen nur noch zu dritt auf der Straße unterwegs sein, aggressive Anhänger der Hitlerjugend verfolgen sie, hetzen einmal sogar einen Schäferhund auf sie. Miriam drischt mit den Schlittschuhen auf sie ein – "Ich habe wohl das Temperament meiner Mutter geerbt". Fortan entfallen die geliebten Kinobesuche. Der Vater muss seine Werkstatt aufgeben. 1934 schicken die Eltern die Tochter für einige Wochen zu einer jüdischen Familie nach Holland, um der 11-Jährigen etwas Zerstreuung zu verschaffen.

Foto von der Familie Samson auf dem Fluchtdampfer (Foto: DW/Ludger Schadomsky)
Der Vater war schon voraus gefahren: Miriam mit Mutter und Bruder auf dem AuswanderungsschiffBild: DW/L.Schadomsky

Kap der letzten Hoffnung

Derweil schließen immer mehr Nachbarn ihre Grenzen für deutsche Juden, auch in Australien, Kanada und in Nord- und Südamerika sind die Quoten (angeblich) erschöpft. Und während in Nazideutschland der Arierwahn immer größere Kreise zieht, gelten deutsche Juden bei Südafrikas Politikern als "Güte-Einwanderer". 2500 kommen allein im Jahr 1936.

Dann jedoch dreht sich der Wind am Kap, die Grauhemden – das sind die Braunhemden Südafrikas – machen Stimmung gegen die "Überfremdung". Eine Quote wird festgelegt. Jetzt müssen die Samsons schnell handeln. Am 08.Oktober 1936 verlässt die Stuttgart als letztes Schiff aus Deutschland Bremen. An Bord: 570 deutsche Juden, unter ihnen Moritz Samson. Die Familie bleibt zunächst in Bochum zurück, es fällt Miriam zu, die Passage auf einem der nächsten Dampfschiffe aus Italien zu organisieren. Derweil lernt die Mutter Schnittmuster und Nähen, um in Afrika schnell Geld verdienen zu können. Im Januar 1937 schiffen sich Miriam, Bruder Klaus und die Mutter schließlich an Bord der Duilio von Genua aus nach Afrika ein. Für die 13-Jährige ist die Flucht aus Nazideutschland ein Abenteuer. "Ich war zuvor nie auf einem großen Schiff, für mich war das alles sehr spannend." Die Mutter tut in dieser Situation alles, um Normalität vorzutäuschen, doch die Oma sagt beim Abschied: "Wir werden uns nie wiedersehen."

Bei der Ankunft hat die kleine Miriam keine Augen für den majestätischen Tafelberg oder die schwarzen Dockarbeiter. "Alles was für mich zählte war, dass ich meinen Vater wiedersehen konnte", erinnert sie sich. Einen ganzen Tag müssen die Flüchtlinge im südafrikanischen Hochsommer an Bord ausharren, bis die jüdische Gemeinde 100 Pfund Kaution für jeden Neuankömmling stellt. "Mein Vater besorgte uns ein Schokoeis, ließ es durch einen Arbeiter zu uns an Deck bringen".

Die ersten Jahre

Miriam Kleineibst vor dem Haus, das die Familie zuerst bewohnte (Foto: DW/Ludger Schadomsky)
Erinnerung an den Anfang in Südafrika: Miriam vor dem Haus, das die Familie zuerst bewohnteBild: DW/L.Schadomsky

Spurensuche im Mai 2012: 75 Jahre später begleiten wir Miriam zum ersten Mal wieder zu der Wohnung, in der die Samsons nach ihrer Ankunft in Kapstadt untergekommen ist. Ein emotionaler Augenblick für alle Beteiligten. "Ja, hier war es", sagt Miriam. "Dort oben war das Schlafzimmer meines Bruders." Sie stutzt. "Aber die Palmen sind weg." Natürlich, die Palmen. Das Eis des Vaters am Pier und die mächtigen, in Bochum natürlich unbekannten Palmwedel – Miriam erinnert sich, wie sehr ihr kindliches Afrikabild durch diese Dinge geprägt wurde.

Die Eingewöhnung iin die fremde Umgebung damals verläuft zügig, schon am nächsten Tag bekommt sie Besuch von den Nachbarskindern. Derweil schalten die Eltern Samson unmittelbar nach Ankunft auf "Südafrika-Modus": Zuhause wird ausschließlich Englisch gesprochen, um die Integration zu erleichtern - und trotzdem spricht Miriam Kleineibst ein Dreivierteljahrhundert später mit uns ein akzent- und fehlerfreies Deutsch.

Die ersten Monate sind dennoch schwer. Vater Samson findet keine Arbeit. Die Mutter hält die Familie über Wasser. Die jüdische Gemeinde hilft – allein 6000 Juden sind mittlerweile aus Deutschland ans Kap gekommen. Miriam verlässt nach knapp zwei Jahren die Schule, nimmt eine Stelle als Hutmacherin an. Südafrika tritt derweil an der Seite der Alliierten in den Weltkrieg ein. Bruder Klaus und Miriams späterer Mann melden sich freiwillig zum Kampf gegen Hitler-Deutschland.

Dann kommt das schicksalhafte Jahr 1948. Die Nationale Partei gewinnt die Wahlen und erlässt in der Folge zahlreiche Gesetze, die die Trennung schwarzer, weißer und, wie man sagte, farbiger Südafrikaner regeln. Die sogenannte "petty" oder Alltags-Apartheid bekommt nun einen legalen Überbau: die "grand Apartheid", die institutionelle Rassentrennung. Für Miriam ein déjà-vu: Nun tragen die Banken in den Parks ebensolche Schilder wie 1935 in Bochum. Statt "Juden" sind es nun "Nicht-Weiße", denen das Sitzrecht genommen wird.

Vogel Strauß am Kap? Nein – kaputt !

Wie reagieren darauf die deutschen Juden, die doch gerade erst daheim der rassistischen Verfolgung entronnen waren? "Wir waren mit uns selbst beschäftigt", sagt Miriam. "Es war eine harte Zeit. Die Kinder waren klein, mein Mann war lange Zeit sehr krank". In die abgeschottete Welt der weißen Kapstädter Vororte dringt bis heute wenig von der drückenden Armut in den Townships der Touristenmetrople. Politik ist im Hause Samson damals kein Thema, die Zwangsumsiedlungen in dem gemischt-rassigen, heute weltberühmten Viertel District Six nimmt die Familie aber wohl wahr. Jahrzehntelang hatten Weiße und Schwarze, Juden und Muslime in diesem Distrikt friedlich miteinander gelebt. Über Nacht werden nun Farbige, Schwarze und Indisch-Stämmige in Enklaven zusammengepfercht, demolieren Bulldozer ihre Häuser.

Helen Suzman Boulevard in Kapstadt (Foto: DW/Ludger Schadomsky)
Im jüdischen Viertel von KapstadtBild: DW/L.Schadomsky

Der einzige Farbige in Miriams Welt ist das Familienfaktotum Aaron, dem Fahrer und Laufburschen ist sie herzlich zugetan. Viel später, In den 1980er Jahren - das Apartheid-System steht kurz vor dem Kollaps - engagiert sich die Familie mit anderen aus der Gemeinde in benachteiligten Township-Schulen, teilt Essensrationen für 1000 bedürftige Schüler aus.

Alltag und Apartheid

Auch in den Gesprächen mit Ronnie, dem älteren von Miriams beiden Söhnen, ist die Apartheid immer wieder ein Thema. Der pensionierte Manager einer großen südafrikanischen Handelskette hat geholfen, über die Distanz aus Deutschland die Termine mit Mutter Miriam zu arrangieren und weicht während des einwöchigen Aufenthaltes nicht von ihrer Seite. Ronnie, unser liebenswürdiger Begleiter, nennt sich selbst einen "südafrikanischen Juden deutscher Abstammung". Freilich, auf allzu hartnäckige Fragen nach der Rolle deutscher Juden im Apartheidstaat reagiert er ein wenig streng "Die erste Generation der deutschen Juden sah hier eine Regierung, die zwar nicht genauso wie diejenige war, die sie gerade hinter sich gelassen hatten, aber die doch eine ähnliche Einstellung hatte, eine sehr aggressive Polizei zum Beispiel. Das wird viele von ihnen eingeschüchtert haben". Für einen weißen Jungen wie Ronnie waren die 1950er Jahre in Südafrika unbeschwert und paradiesisch schön: "Meine Familie hat allerdings versucht, im Alltag einen Unterschied zu machen. Farbige Menschen, mit denen wir jeden Tag zu tun hatten, haben wir auch als solche behandelt, während die Regierung ihnen das Selbstwertgefühl geraubt hat."

Politik als Luxus

Im "Tempel Israel" sind wir später mit Rabbi Richard Newmann verabredet. Er ist in Berlin aufgewachsen und mit seiner Familie nach Großbritannien emigriert, hat in Israel, den USA und Deutschland gearbeitet. Seit fünf Jahren steht er der jüdischen Gemeinde von Green Point vor. Wie alle Rabbiner in Südafrika sieht sich auch der bärtige Newmann vor die mitunter schwierige Aufgabe gestellt, ein gemischte Gemeinde aus Orthodox-Konservativen und Liberalen zu betreuen. 250 Aktive versammeln sich am Wochenende in dem prächtigen Gebetshaus zur Sabbatfeier.

Rabbi Newman in der Synagoge von Kapstadt(Foto: DW/Ludger Schadomsky)
In der Synagoge: Rabbi NewmanBild: DW/L.Schadomsky

Wie hat er die Rolle der deutschstämmigen Juden erlebt? "Der Eindruck des Holocaust und des Weltkrieges auf die deutschen Juden, die nach Südafrika emigrierten, war derart gewaltig, dass sie emotional erschöpft waren und sich deshalb nicht an politischen Aktivitäten gegen die Apartheid beteiligten", sagt Newman und erinnert sich an seinen eigenen Vater, der aus Deutschland geflohen ist: "Danach war er emotional kaputt". Als die Flüchtlinge nach Südafrika kamen, war ihr Leben hart genug – sie hatten weder die Zeit noch die Kraft, sich den Luxus politischer Opposition zu leisten."

Ähnlich sieht dies auch Richard Freedman, der Direktor des Holocaust-Zentrums Kapstadt: "Ich glaube, es ist unfair, Überlebende des Holocaust zu fragen: Wenn du doch dieses Leid selbst durchgemacht hast, wie konntest du dann zulassen was hier geschah? Die Apartheid hat sie verstört, aber gleichzeitig waren sie damit beschäftigt, ihr Leben wieder zusammenzufügen, eine Familie zu gründen, zu heiraten, Arbeit zu finden, die Wunden zu heilen. Und einige von ihnen sind ja sogar Aktivisten geworden – das war wohl eher überraschend. Aber es konnte nicht von ihnen erwartet werden."

Erbe und Identität

Zurück in die Gegenwart und nach Riebeek-Kasteel, eine Fahrstunde nördlich von Kapstadt. Miriams zweiter Sohn Michael lebt hier inmitten von Weinfarmen, die Südafrikas erlesene Tropfen produzieren. Jahrelang hat der leitende Angestellte von Südafrikas Diamantengigant de Beers mit seiner Frau und den Kindern in einer staubigen Minenstadt im Norden gewohnt. De Beers wurde früher lange von den deutschstämmigen Juden der Oppenheimer-Dynastie geführt. Nun hat er sich in einem gemütlichen Haus in dem Provinznest eingerichtet, das berühmt ist für seine Oliven und seine Künstlerkolonie.

Miriam und Günther Kleineibst und Sohn Ronnie im Garten des Holocaust Centre in Kapstadt (Foto: DW/Ludger Schadomsky)
Miriam, Günther und Sohn Ronnie im Garten des Holocaust CentreBild: DW/L.Schadomsky

Michael ist mit einer protestantischen, Afrikaans-sprechenden Südafrikanerin verheiratet. Verbinden ihre Kinder etwas mit dem Judentum der Großeltern? "Jüdischsein ist ein Teil von ihnen, aber kein sehr ausgeprägter", sagt Michael. "Sie tendieren eher Richtung Christentum. Mein Sohn zum Beispiel ist ein bekennender Christ, aber begeht dennoch zwei Mal im Jahr mit uns die großen jüdischen Feiertage. Die Entscheidung, wie sehr sie ihr jüdisches Erbe leben wollen, ist völlig ihnen überlassen."

Zurück in Kapstadt gilt es Abschied zu nehmen. Miriams Mann Günther, inzwischen 94, ist erkrankt, seine Frau in Sorge. Ich besorge noch rasch Medizin aus der Apotheke und kaufe einen Kuchen vom Konditor in Sea Point. Nicht koscher! Ein letzter Kaffee am Wohnzimmertisch. Werden die Kinder und Enkel das jüdische Erbe der Familie annehmen und weitergeben? "Es geht nicht um ostentatives Jüdischsein", sagt Miriam. "Wir feiern das Pessachfest, und das Neujahrfest und die übrigen Feiertage im großen Familienkreis, das ist mir sehr wichtig. Und am wichtigsten ist mir, wenn Menschen etwas Gutes tun."

Miriam Kleineibst und ihr zweiter Mann Günther (Foto: DW/Ludger Schadomsky)
Zufrieden, zu guter LetztBild: DW/L.Schadomsky

Der Kaffee ist getrunken in der Wohnung des Good Hope Parks. Miriam Kleineibst, geborene Samson, blickt noch einmal zurück. "Es war nie leicht, aber es war immer gut."