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Vertrauenskrise auf Französisch

Kersten Knipp25. Mai 2015

Die Franzosen trauen ihren Politikern immer weniger. Gleichzeitig wenden sie sich vom politischen Leben ab. Nun diskutiert das Land die Hintergründe der Krise. Im Zentrum der Kritik steht die Machtfülle des Präsidenten.

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Französische Lehrer demonstrieren gegen die geplante Schulreform (Foto: AFP)
Der Unmut der Straße: Lehrer demonstrieren gegen die geplante SchulreformBild: Getty Images/AFP/P. Hertzog

Der amtierende Vorsitzende der Parti Socialiste (PS), der sozialistischen Partei Frankreichs, heißt Jean-Christophe Camadélis. Er wurde kürzlich von den PS-Mitgliedern in das Amt gewählt. Genauer gesagt: von deren Hälfte. Denn nur 50 Prozent der Mitglieder beteiligten sich an der Wahl. In Zahlen sind das gerade einmal 75.000. Insgesamt hat die PS nicht mehr als 150.000 Mitglieder.

Die übrigen Franzosen - gut 66 Millionen Bürger - nahmen die Abstimmung mit bestenfalls mäßigem Interesse zur Kenntnis. Ebenso wenig dürfte sie der Parteikongress der PS Anfang Juni in Nantes fesseln. "Wir machen einen Kongress, und den Franzosen ist es völlig egal", zitiert die Zeitung "Le Monde" einen frustrierten Aktivisten.

Massiver Vertrauensverlust in die Politik

"Wenn die Parteimitglieder den Glauben verlieren", hat "Le Monde" den entsprechenden Artikel überschrieben - und sich damit einem Phänomen gewidmet, das Frankreich seit Jahren beschäftigt und in letzter Zeit immer mehr von sich reden macht: Die Franzosen sind politikmüde. Genauer: Sie sind ihrer Parteien müde.

Franzosen vor einem Arbeitsamt in Paris (Foto: picture alliance)
Krise und kein Ende: Franzosen vor einem ArbeitsamtBild: picture-alliance/dpa

Eine vom Meinungsforschungsinstitut Ipsos im Auftrag von "Le Monde" durchgeführte und Mitte April veröffentlichte Studie hat weitere ernüchternde Befunde zutage gebracht: Nur neun Prozent der Franzosen haben Vertrauen in die politischen Parteien. Dem Rest, also über 90 Prozent der Befragten, fehlt dieses Vertrauen. Und gerade einmal ein gutes Viertel hält die gewählten Abgeordneten für zuverlässig. Kaum besser steht es um den Ruf des französischen Parlaments: Nicht einmal ein Drittel (31 Prozent) der Befragten sieht sich durch die Volksvertretung angemessen repräsentiert. "Europa" stellt für die Befragten allerdings auch keine Lösung dar: Der Europäischen Union sprechen nur 35 Prozent der Franzosen ihr Vertrauen aus.

Wirtschaft, Schule, Kultur, das nationale Selbstverständnis: Nahezu alles ist in Frankreich in eine Krise geraten. Seit geraumer Zeit kommt eine politische Vertrauenskrise hinzu. Denn ganz gleich, wen oder was die Franzosen wählen, ob sie einen linken oder einen rechten Staatspräsidenten ins Amt schicken: Es geht ihnen nicht besser. "Den politischen und wirtschaftlichen Institutionen mangelt es an Verlässlichkeit, Legitimität, Glaubwürdigkeit. Das destabilisiert die gesamte Gesellschaft und treibt uns in eine äußerst ernsthafte Krise", schreibt das Internetmagazin "Atlantico".

Die Machtfülle des Präsidenten

Doch woher rührt diese Vertrauenskrise? Ins Zentrum des Argwohns ist zuletzt vor allem die vornehmste französische Institution überhaupt geraten, die Fünfte Republik. Genauer: die starke Stellung des Präsidenten. Die Zeitung "Libération" erinnerte vor kurzem an das berühmte Bekenntnis des Gründervaters der Fünften Republik, des Präsidenten Charles de Gaulle. "Die unteilbare und gesamte Autorität des Staates ist dem Präsidenten durch das Volk anvertraut, das ihn gewählt hat. Es gibt keine andere Autorität."

Elysee Palast in Paris (Foto: AFP)
Der Glanz der Republik: Der Elysée-PalastBild: Jacques Demarthon/AFP/Getty Images

De Gaulle, schreibt "Libération", übernahm aber auch persönliche Verantwortung. Als die Franzosen ein von ihm in die Wege gebrachtes Referendum über die Reform der Regionalverwaltung ablehnten, trat er zurück. Diese Konsequenz, schreibt die Zeitung, vermisse man bei seinen Nachfolgern.

"Ein verkrustetes System"

Dies sehen auch andere Analysten so. Die dem Präsidenten in der Verfassung zugestandene Machtfülle, so der Tenor, habe dazu geführt, dass die Amtsinhaber sich immer weniger um ihre Wahlversprechen gekümmert und die Macht des Premierministers und der Regierung beschnitten hätten.

Die Republik, schreibt etwa die Journalistin Ghislaine Ottenheimer, Chefredakteurin des Wirtschaftsmagazin "Challenges", in ihrem Buch "Poison Présidentiel" (auf Deutsch in etwa: "Das Gift der Präsidenten"), sei inzwischen unfähig, politische Entscheidungen zu treffen. "Dieses System fördert nationalen Narzissmus und Melancholie. Es ist archaisch und vertikal. Es vertraut das Schicksal der gesamten Nation einem einzigen Mann an. Es legitimiert dessen Launen und zerstört alles Übrige."

Die enttäuschte Linke

Besonders enttäuscht zeigen sich derzeit linke Kommentatoren. Sie werfen dem Amtsinhaber François Hollande vor, nur die wenigsten seiner Versprechen erfüllt zu haben. Besonders die angekündigten wirtschaftspolitischen Reformen sei er schuldig geblieben. "Ökonomisch ist Hollande ein Liberaler, politisch ist er es nicht", schreibt der ehemalige "Le Monde"-Journalist Edwy Plenel, Gründer des Internetmagazins "Mediapart", in seinem Buch "Dire non" ("Nein sagen").

François Hollande (Foto: Reuters)
Hat er zu viel Macht? - François HollandeBild: Reuters/P. Wojazer

Damit, so Plenel, habe Hollande die Politik seiner Vorgänger fortgesetzt und so zur Vertrauenskrise beigetragen. Von der, glaubt "Le Monde", profitiere derzeit nur eine einzige Partei: der Front National. Der habe die Zahl seiner Mitglieder von 7000 im Jahr 2007 auf derzeit mutmaßlich mehr als 80.000 steigern können.