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Verheugen zieht Bilanz

22. Januar 2010

Nach zwei Amtsperioden als EU-Kommissar geht Günter Verheugen (SPD) in Rente. Auf gepackten Umzugskartons sitzend zog er im DW-Interview eine Bilanz seiner Brüssler Zeit, in der er auch die Osterweiterung organisierte.

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Verheugen im Porträt (Foto: dpa)
Er will nicht "auf Null bremsen"Bild: DW/Thomas Einfelder

"Nach 40 Jahren Vollgas kann ich nicht einfach auf Null herunterbremsen. Das wäre ja gesundheitsschädlich", sagt EU-Kommissar Günter Verheugen lachend im DW-Interview. Verheugen, der im April seinen 66. Geburtstag feiert, wird einen Lehrauftrag an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) annehmen. Außerdem möchte der gelernte Journalist zu seinen beruflichen Wurzeln zurückkehren und Artikel über europäische Grundsatzfragen schreiben. Öffentliche Ämter möchte er nicht mehr bekleiden. "Ich bin neugierig auf ein Leben ohne Apparat. Keine Sekretärin, keinen Fahrer mehr. Ein Auto habe ich nicht, weil ich kein Auto fahre. Ich fahre gerne mit dem Zug", bekennt der scheidende Industriekommissar, der auch für die europäische Autoindustrie zuständig war.

Höhepunkt "Big Bang"

Der Slowakische Präsident Rudolf Schuster über gibt dem EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen den Orden des Weißen Doppelkreuzes erster Klasse in Bratislava am 19.03.2004 (Foto: AP)
Orden im Osten: Verheugen erhält 2004 eine Auszeichnung des slowakischen Präsidenten SchusterBild: AP

Die europäische Wirtschaft sieht Verheugen insgesamt auf gutem Wege zum Umbau in eine nachhaltige Produktion, die Wachstum und Umweltschutz unter einen Hut bringen könne. Die derzeitige Krise werde vorübergehen. Insgesamt habe Europa die notwendigen Weichen für eine Bewältigung der Krise gestellt, bilanziert Verheugen am Ende seiner zehn Jahre in Brüssel.

Als Höhepunkt seiner politischen Karriere sieht der SPD-Politiker die Erweiterung der EU um zehn Mitgliedsstaaten, den so genannten "Big Bang", im Mai 2004. Verheugen hatte, als damaliger Erweiterungskommissar, die Verhandlungen mit insgesamt zwölf Staaten geführt. Rumänien und Bulgarien traten später bei. "In vielen Mitgliedsstaaten bin ich heute noch beliebter und bekannter als in meinem eigenen Heimatland", sagte Verheugen im DW-Interview. "Ich empfinde es als großes Geschenk, dass ich die Erweiterung mit vollenden durfte. Damit ist ein Stück Fehlentwicklung der Geschichte des 20. Jahrhunderts korrigiert worden."

Bürokratie bändigen

Symbolbild: Die ausgestreckte Hand eines Ertrinkenden in einem Meer aus Papier (Foto: Bilderbox)
Die EU-Bürokratie muss abgebaut werdenBild: BilderBox

Beim Bürokratieabbau sieht Verheugen die EU ebenso auf gutem Wege. In den nächsten Jahren müssten seine Vorschläge umgesetzt werden, die zu einer Kostenersparnis von 30 Prozent bei den europäischen Unternehmen führen könnten: "Wir brauchten vor allem einen Bewusstseinswandel."

Immer mehr durch Europa zu regulieren, heiße eben nicht, ein immer besseres Europa zu bekommen. Man müsse sehr genau prüfen, was wirklich europäisch geregelt werden müsse, bilanziert Verheugen seine Erfahrungen. Außerdem regt er auch eine Reform der inneren Strukturen der EU-Kommission an. Die politische Kontrolle der Verwaltungstätigkeit sei manchmal sehr schwierig. Das sei das Problem jeder modernen Verwaltung. Dieses Phänomen will Günter Verheugen jetzt in seiner neuen Tätigkeit als Universitätslehrer erforschen lassen.

Balkan und Türkei gehören dazu

In zehn bis zwanzig Jahren werde die EU um die Balkanstaaten gewachsen sein, glaubt Günter Verheugen: "Die Erweiterung hat eine starke Eigendynamik. Die Beitrittskandidaten selbst bestimmen durch ihre Fortschritte, wann sie aufgenommen werden." Er sehe zwar eine starke Skepsis gegenüber neuen Aufnahmen in einigen EU-Staaten, letztlich sei die Erweiterung aber nicht aufzuhalten, so Verheugen. In Europa werde sich außerdem die Erkenntnis durchsetzen, dass man die Türkei in der EU schon aus weltpolitischen Gründe brauche. Für die übrigen Nachbarstaaten im Osten und Süden der Union empfiehlt Günter Verheugen einen einheitlichen Wirtschaftsraum - eine Art Binnenmarkt ohne politische Integration. So könne ein Gegengewicht gegenüber China oder Indien geschaffen werden.

Angebliche Affäre

Günter Verheugen, Vizepräsident der Europäischen Kommission und EU-Industriekommissar, trifft am 12.09.2005 in Wismar ein; hinter ihm seine Kabinettschefin Petra Erler (Foto: dpa)
Petra Erler (links) leitet den engsten Mitarbeiterkreis des KommissarsBild: picture alliance/dpa

Zu den weniger schönen Erfahrungen in Brüssel zählten für Günter Verheugen Vorwürfe, er habe eine angebliche Freundin auf einen hohen Posten in seinem Kabinett befördert und so Vetternwirtschaft betrieben. Die Vorwürfe erwiesen sich als haltlos. "Da habe ich zum ersten und einzigen Mal in 40 Jahren Berufsleben gespürt, wie die Qualitäten der Boulevardpresse sind", so Verheugen ironisch. Besonders unfair sei die damalige Kampagne gegenüber seiner Mitarbeiterin Petra Erler gewesen.

Auf die Frage, was er an Brüssel am wenigsten vermissen werden, antwortete Günter Verheugen: "Das schlechte Wetter!"

Günter Verheugen machte nach einem Zeitungsvolontariat früh in der FDP Karriere. Er wurde Bundesgeschäftsführer der Partei. Nach dem Bruch der sozial-liberalen Koalition im Bund wechselte Verheugen 1982 zur SPD. Auch in dieser Partei arbeitete er sich zum Bundesgeschäftsführer hoch. In der rot-grünen Koaltion wurde er Staatsminister im Auswärtigen Amt. 1999 wechselte er von Bonn als EU-Kommissar nach Brüssel. Von 1990-1999 war Verheugen auch Vorsitzender des Rundfunkrates der Deutschen Welle.

Autor: Bernd Riegert
Redaktion: Fabian Schmidt