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Verbotene Liebe

Jeanette Seiffert25. September 2014

In Deutschland steht Sex zwischen Geschwistern unter Strafe. Der Ethikrat plädiert nun dafür, das Inzestverbot abzuschaffen. Damit geht die Diskussion um eines der letzten gesellschaftlichen Tabus erst richtig los.

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Inzest Geschwisterpaar Patrick und Susan
Die Halbgeschwister Patrick S. und Susan K. aus LeipzigBild: picture-alliance/dpa

Wenn zwei sich finden, die sich eigentlich nicht finden dürfen, dann ist das nicht nur Stoff für Soaps im Vorabendprogramm, sondern kann auch im wahren Leben für echte Tragödien sorgen: Zum Beispiel dann, wenn sich Halbgeschwister, die in unterschiedlichen Familien aufgewachsen sind, im späteren Leben kennen- und liebenlernen. Kann Liebe Sünde sein? Der Gesetzgeber sagt: Ja. Der Paragraf 173 des Strafgesetzbuchs ist in solchen Fällen eindeutig: Demnach werden "leibliche Geschwister bestraft, die miteinander Beischlaf vollziehen."

Das Hauptmotiv hinter diesem Gesetz ist der Schutz der Familie. Doch in der Realität führt dieses Gesetz oft dazu, dass Familien auseinander gerissen werden: Im Extremfall landen Familienväter im Gefängnis. Wie zum Beispiel im Fall von Patrick S. und seiner Partnerin Susan K. (Bild oben): Ihr Fall hat in Deutschland vor einigen Jahren für Wirbel gesorgt. Denn die beiden sind Geschwister und haben vier gemeinsame Kinder, zwei von ihnen sind behindert. Drei Jahre lang saß Patrick S. wegen der Liebesbeziehung zu seiner Schwester hinter Gittern.

Selbstbestimmung vs. Moral

Die Liebe zwischen Bruder und Schwester ist ein gesellschaftliches Tabu. Beim Thema Inzest geht es im Grunde um die Frage, was schwerer wiegt: Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung? Oder das Wohl des Kindes, das ein deutlich erhöhtes Risiko hat, behindert oder belastet mit Erbkrankheiten zur Welt zu kommen - und womöglich von der Gesellschaft als "Inzest-Kind" diskriminiert zu werden?

Jetzt rüttelt der Deutsche Ethikrat an diesem Tabu: In einer 80-seitigen Stellungnahme plädieren die Experten dafür, einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern über 18 Jahren nicht mehr unter Strafe zu stellen. Der Staat, so urteilt die Mehrheit des Expertengremiums, sollte die Geschwisterliebe nicht kriminalisieren. In dem Papier vertreten sie außerdem die Ansicht, dass "das Strafrecht nicht das geeignete Mittel ist, ein gesellschaftliches Tabu zu bewahren".

Demonstration gegen sexualisierte Gewalt. Foto: Foto: David Ebener dpa/lby
Inzest zwischen Geschwistern: Ein wichtiges gesellschaftliches Tabu?Bild: picture-alliance/dpa

Die Aufhebung des Inzestverbots: Was für den einen in Zeiten von Homo-Ehe und Fortpflanzungsmedizin längst überfällig ist, bezeichnen andere als Zivilisationsbruch. Auf "Twitter" empören sich gleich mehrere Nutzer über den Ethikrat:

Abseits dieser moralischen Argumente gilt es als wissenschaftlich gesichert, dass sich die Auswirkung von Gendefekten durch übereinstimmende Gene der Eltern potenzieren: Das Risiko von Behinderungen steigt. Studien haben gezeigt, dass mehr als jedes zweite Kind aus einer Inzestbeziehung an einer Erbkrankheit oder einer Behinderung leidet. Sicher ist aber auch: Die so genannte "Blutschande" kommt zwar in der Literatur häufig vor, im realen Leben ist der Inzest zwischen Geschwistern aber sehr selten.

Auch der Ethikrat uneins

Die Mehrheit der 26 Mitglieder des Deutschen Ethikrats jedenfalls kommt zu dem Schluss, dass das gesundheitliche Risiko für mögliche Nachkommen aus einer inzestuösen Beziehung nicht ausreicht, um einvernehmlichen Sex zwischen Geschwistern generell zu verbieten. Allerdings sind sich auch die Mitglieder des Gremiums, das sich aus unabhängigen Sachverständigen zusammensetzt, in diesen heiklen Fragen keineswegs einig: Eine Minderheit von neun Mitgliedern stellte sich in einem abweichenden Votum gegen den Vorstoß. Sie sieht darin "ein irritierendes rechtspolitisches Signal" und eine "Relativierung und Schwächung" eines "ethisch bedeutsamen Schutzraums". Der Sprecher dieser Minderheit, der Kölner Rechtswissenschaftler Wolfram Höfling, warf der anderen Seite vor, das Familienverständnis zu "dekonstruieren".

Einig waren sich allerdings alle Mitglieder darin, dass das Argument eines größeren Risikos von Erbkrankheiten bei Kindern aus Inzest-Beziehungen für ein Verbot nicht ausreicht. Ähnlich äußern sich auch einige Twitter-Nutzer:

Heftige Kritik kommt dagegen aus der Union: Die Empfehlung des Ethikrats sei aus familienpolitischer Sicht "unverständlich", so der familienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Marcus Weinberg (CDU). Kinder und Jugendliche müssten sich auf das Tabu verlassen können, dass Sexualkontakte zwischen Eltern und Kindern und zwischen Geschwistern verboten und gesellschaftlich geächtet sind.

Aus seiner Sicht führt die Vorstellung, dass sich die Familienmitglieder frei und selbstbestimmt für eine solche Beziehung entscheiden können, in die Irre: "Das ist scheinheilig", sagte er dem Fernsehsender N24. "Auch Geschwister untereinander haben eine besondere Abhängigkeitssituation, und ich glaube, es ist wichtig, dass der Gesetzgeber hier eine klare Norm schafft." Auch die rechtspolitische Sprecherin der Fraktion, Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU) sprach von einem "falschen Signal", der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Stephan Mayer (CSU), in der "Bild“-Zeitung gar von einem "sittenwidrigen Vorstoß": Das Votum des Gremiums sei "absolut untragbar".

Marcus Weinberg, CDU. Foto: Ulrich Perrey/dpa.
CDU-Politiker Weinberg: Auch Geschwister stehen in AbhängigkeitBild: picture-alliance/dpa

Alte Forderung nach Lockerung des Inzestverbots

Teile der Grünen dagegen vertreten einen anderen Standpunkt: Derzeit will sich zwar kein Grünen-Politiker bei diesem Thema allzu weit aus dem Fenster lehnen. Doch der grüne Rechtspolitiker Hans-Christian Ströbele forderte bereits vor einem Jahr, den Inzestparagrafen abzuschwächen. Und die Grüne Jugend, die Jugendorganisation der Partei, ging damals sogar noch einen Schritt weiter und wollte sexuelle Beziehungen zwischen Elternteilen und erwachsenen Kindern erlauben. Der Inzest zwischen Geschwistern ist ohnehin nur in etwa der Hälfte der Staaten der Welt verboten, etwa in Österreich und den meisten Staaten der USA. In anderen, etwa in Russland, Frankreich, Spanien, der Türkei sowie mehreren lateinamerikanischen Staaten ist die Geschwisterliebe hingegen nicht strafbar.

Dass die Empfehlung des Ethikrates tatsächlich dazu führt, dass auch in Deutschland der Paragraf 173 geändert oder gar abgeschafft wird, ist aber eher unwahrscheinlich: Die mitregierenden Sozialdemokraten halten sich zu diesem Thema bedeckt. Das SPD-geführte Bundesjustizministerium sieht laut einem Bericht des "Tagesspiegel" keinen Bedarf, an der geltenden Rechtslage zu rütteln - und verweist auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die das Verbot des Verwandtenbeischlafs bestätigt hatten.