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Verarbeitung eines Verbrechens

Jochen Kürten20. März 2012

Volker Schlöndorffs Film "Das Meer am Morgen" erzählt ein düsteres Kapitel deutscher Besatzungsgeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. Dabei halfen ihm auch die Erinnerungen zweier Schriftsteller.

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Szene aus dem Film Das Meer am Morgen (Foto: PROVOBIS FILM)
Bild: Provobis

Für ihn sei sein neuer Film ein sehr persönliches Projekt gewesen, sagt Volker Schlöndorff im Interview mit der Deutschen Welle, nicht die soundsovielte Wiederauflage eines Films über den Zweiten Weltkrieg. Das Attentat auf einen deutschen Offizier in der Bretagne 1941 und die darauffolgende Racheaktion der deutschen Besatzungstruppen, bei der 48 Franzosen erschossen wurden, bilden die Grundlage für Schlöndorffs neuen Film "Das Meer am Morgen". Dabei handelt es sich nicht nur um die akribisch nacherzählte Filmversion der historischen Geschehnisse. Denn Schlöndorff hat sich für seinen Spielfilm verschiedener, auch literarischer Quellen bedient.

Erinnerungen an die Jugend

Zunächst aber lohnt ein Blick zurück, der erklärt, warum "Das Meer am Morgen" für den Regisseur ein "sehr persönlicher Film" geworden ist. Als 17-Jähriger war der junge Schlöndorff in der Bretagne Austauschschüler, anschließend studierte er Jura in Paris. Dort besuchte er jeden Tag die legendäre Cinémathèque française und machte sich mit der Geschichte des Kinos vertraut. Auf ein mögliches Studium an der Pariser Filmhochschule verzichtete er zugunsten praktischer Fortbildung. Schlöndorff wurde Regieassistent bei den Größen des französischen Kinos. Schon als Heranwachsender habe er über die Racheaktionen der Nazis in der Bretagne gehört, erzählt Schlöndorff, sich aber noch nicht intensiver damit beschäftigt. Erst viele Jahrzehnte später habe er das Thema dann aufgriffen und sei bei seinen Recherchen noch auf überraschende andere Quellen gestoßen.

Szene aus dem Film Das Meer am Morgen (Foto: PROVOBIS FILM)
Das Attentat - französische Widerstandskämpfer erschießen einen deutschen OffizierBild: Provobis

Zwei berühmte deutsche Schriftsteller, die während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich stationiert waren, Ernst Jünger und Heinrich Böll, hätten ihn beim Schreiben des Drehbuchs inspiriert, sagt Schlöndorff. Ernst Jünger war zwischen 1941 und 1944 in der Stabsabteilung des deutschen Militärbefehlshabers in Paris stationiert. Jünger bekam vom deutschen Statthalter in Frankreich, Otto von Stülpnagel, den Auftrag, die Vorgänge um die Geiselerschießungen "literarisch" zu verarbeiten. Jünger tat das, das Manuskript vernichtete er allerdings später. Nach dem Krieg wurde eine Abschrift entdeckt, die erst vor ein paar Jahren veröffentlicht wurde. Zur Neuauflage des Buches "Zur Geiselfrage" schrieb Schlöndorff im vergangenen Jahr ein Vorwort.

Eine weitere Quelle: Bölls Kurzgeschichten

Und auch Texte von Heinrich Böll, der damals als einfacher Soldat in der Bretagne ganz in der Nähe der schrecklichen Ereignisse stationiert war, dienten Schlöndorff als Quelle für seinen Film. Bölls Kurzgeschichten "Das Vermächtnis" und "Der Zug war pünktlich" gehen zwar nicht direkt auf Attentat und Geiselerschießungen ein, gelten aber als Verarbeitung des Kriegseinsatzes des jungen Soldaten und späteren Nobelpreisträgers. In Schlöndorffs Film "Das Meer am Morgen" taucht ein junger deutscher Soldat auf, der sich an Heinrich Böll und seinen literarischen Figuren orientiert.

Szene aus dem Film Das Meer am Morgen (Foto: PROVOBIS FILM)
Glück hinter Stacheldraht - die französischen Geiseln erleben im Straflager nur wenige Augenblicke des GlücksBild: Provobis

Als im Oktober 1941 Oberstleutnant Karl Hotz in Nantes von französischen Widerstandskämpfern erschossen wurde, fielen die Racheaktionen der Nazis drakonisch aus. Berlin verlangte die Exekutierung von 150 französischen Geiseln. Die in Paris stationierten Nazi-Statthalter wandten ein, allzu scharfe und umfassende Rachaktionen würden ihre Besatzungsarbeit vor Ort vollständig sabotieren, die mühsam aufrechterhaltene Ruhe im besetzten Frankreich könnte enden. Schließlich wurden 48 Franzosen erschossen, die Listen der zu Exekutierenden, zumeist Kommunisten, erhielten die Deutschen von französischen Kollaborateuren.

Bewegender Abschiedsbrief

Darunter befand sich auch der erst 17-jährige Guy Môquet. Seinen Abschiedsbrief an Eltern und Freunde kennt in Frankreich heute fast jedes Kind. Staatspräsident Nicolas Sarkozy verfügte bei seinem Amtsantritt 2007, dass der aufwühlende Text Môquets jedes Jahr an den Schulen des Landes verlesen werden sollte. "Guy Môquet ist in Frankreich heute das, was bei uns Sophie Scholl ist", sagt Volker Schlöndorff. Es war dann ausgerechnet Ernst Jünger, der Guy Môquets Brief – wie auch die Abschiedsworte der anderen Erschossenen – ins Deutsche übersetzte. Auch diese bewegenden Dokumente kann man heute in dem Buch "Ernst Jünger: Zur Geiselfrage" nachlesen.

Szene aus dem Film Das Meer am Morgen (Foto: PROVOBIS FILM)
Kurz vor der Exekution: der junge Guy Môquet und ein PriesterBild: Provobis

All die Texte und Eindrücke, die authentischen Geschehnisse und fiktiven Elemente, hat Volker Schlöndorff in seinen Film einfließen lassen. Sie seien durch "die Kunst des Drehbuchschreibens" zusammengekommen, sagt der Filmemacher im DW-Gespräch. Von Ernst Jünger sei er "angezogen und abgestoßen" zugleich gewesen: "Jünger war ja ein Frankreich-Liebhaber, ein sehr disziplinierter Literat und andererseits auch ein Mensch der Tat." Die Figur des Schriftstellers und Soldaten Ernst Jünger spielt dann im Film "Das Meer am Morgen" auch mit, eindrucksvoll verkörpert vom Schauspieler Ulrich Matthes. Heinrich Böll hingegen taucht nicht namentlich auf. Allerdings ist ein junger deutscher Soldat (Jacob Matschenz) in der Filmhandlung an Heinrich Böll angelehnt.

Ausstrahlung im Fernsehen

Nach einer ersten Aufführung beim Filmfest in Biarritz und Vorstellungen bei der Berlinale wird "Das Meer am Morgen" nun beim deutsch-französischen Fernsehsender ARTE ausgestrahlt (23.03.2012). Bei den deutschen Fernsehsendern und Filmförderern sei er mit dem Projekt auf Bedenken gestoßen. In Frankreich hingegen sei das Interesse für seinen Film groß gewesen, sagt Schlöndorff. "Für mich ist das nicht Vergangenheitsbewältigung", so der Oscarpreisträger in einem Interview der Fach-Zeitschrift "Filmecho/Filmwoche". Ihm sei es in seinem neuen Film darum gegangen zu zeigen, wie Menschen in Extremsituationen agierten, und um die Frage, ob er sich im Leben richtig verhalte. So ist "Das Meer am Morgen" zweierlei: eine Auseinandersetzung Schlöndorffs mit deutscher und französischer Geschichte und eine sehr persönliche Begegnung mit der eigenen Biografie.

Ernst Jünger: Zur Geiselfrage, Schilderung der Fälle und ihrer Auswirkungen, Hrsg. von Sven Olaf Berggötz, mit einem Vorwort von Volker Schlöndorff, Klett-Cotta 2011, 160 Seiten.