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Van - gebeutelt von Erdbeben, Krieg und Armut

23. Oktober 2011

Bei einem schweren Erdbeben im Osten der Türkei sind mindestens 200 Menschen ums Leben gekommen. Bis zu 1000 Opfer werden in der Provinz Van befürchtet. Viele Häuser sind provisorisch - Statik und Sicherheit sind Luxus.

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Ein zusammengestürztes Haus in Van nach dem schweren Erdbeben (Foto: pa/dpa)
Das Erdbeben richtete schwere Verwüstungen anBild: picture-alliance/dpa
Helfer ziehen eine Überlebende aus den Trümmern (Foto: pa/dpa)
Mit bloßen Händen suchen die Helfer in den Trümmern nach ÜberlebendenBild: picture-alliance/landov

Mit Taschenlampen und bloßen Händen graben Helfer in der Kleinstadt Ercis in der Nacht zum Montag (24.10.2011) weiter in dem Trümmerhaufen, der noch vor wenigen Stunden ein siebenstöckiges Wohnhaus gewesen sein soll. 28 Familien werden unter den Betonplatten vermisst, die zu einem dichten Stapel zusammengestürzt sind. Erst vor fünf oder sechs Jahren sei dieses Mietshaus errichtet worden, erzählt ein geschockter Nachbar, der vor dem Trümmerhaufen auf ein Lebenszeichen aus dem Beton wartet.

Den Bauvorschriften wird das Gebäude ganz sicher nicht entsprochen haben, obwohl es hier in der Gegend immer wieder rappelt – in den 1940er Jahren gab es hier in der Kleinstadt am Nordufer des Van-Sees hunderte Tote bei einem Beben, das letzte starke Beben von mehr als sieben Punkten liegt erst 35 Jahre zurück.

Immer wieder verheerende Beben

Zerstörtes Gebäude in der Provinz Van, dahinter Berge (Foto: pa/dpa)
Die Provinz Van: von wilden Bergen zerklüftet, schon immer erdbebengefährdetBild: picture-alliance/Abaca

Ganze 98 Prozent des türkischen Staatsgebietes gelten der Wissenschaft zufolge als erdbebengefährdet, rund ein Drittel des türkischen Territoriums werden als hochgefährdet eingestuft - darunter die Millionenstädte Istanbul und Izmir, aber auch ganz Ostanatolien. Unter der Türkei treffen gleich drei Erdplatten aufeinander: Die eurasische, die anatolische und die arabische Erdplatte stoßen hier zusammen, reiben sich und verrutschen dabei gelegentlich. Verwerfungslinien heißen die beweglichen Grenzen zwischen diesen Platten, und die Türkei hat gleich mehrere, von denen zwei geradewegs auf Van zulaufen: Die nordanatolische Verwerfungslinie zwischen Eurasien und Anatolien führt vom Marmara-Meer über Nordanatolien zum Van-See. Die ostanatolische Verwerfungslinie zwischen der anatolischen und der arabischen Platte verläuft von der syrischen Grenze über das Taurus-Gebirge ebenfalls schnurstracks nach Van.

Entsetzliche Verwüstungen haben diese Verwerfungen in der Türkei immer wieder angerichtet, wenn die Platten in Bewegung gerieten. Erst zwölf Jahre ist es her, dass bei einem Beben im nordwesttürkischen Kocaeli der Stärke 7,4 fast 20.000 Menschen ums Leben kamen, im osttürkischen Erzincan starben bei einem Beben im Jahr 1939 bis zu 40.000 Menschen. Dazwischen lagen mehr als ein Dutzend mittlere Erdbeben mit jeweils hunderten oder gar tausenden Toten. Auch heute vergeht in der Türkei kaum ein Tag ohne das eine oder andere kleinere Erdbeben.

Viele Gebäude ohne solide Statik - auch in Istanbul

Ein vom erdbeben zerstörtes Haus (Foto: pa/dpa)
Viele Häuser in der Türkei wurden ohne bauliche Genehmigung errichtetBild: picture-alliance/Abaca

Trotz der allgegenwärtigen Gefahr ist die Türkei noch immer nicht dafür gerüstet. Selbst in der entwickeltsten und modernsten Stadt Istanbul, wo die Erdbebenforschung tagtäglich mit einem gewaltigen Beben rechnet, sind nach Angaben des Bauministeriums 85 Prozent aller Gebäude ohne Bauaufsicht errichtet, oft ohne solide Statik und mit minderwertigem Material. Nach Erhebung der Berufskammer der Bauingenieure wurden nur ein Prozent der Krankenhäuser und keine zehn Prozent aller Schulen in der Metropole seit dem Beben von 1999 nachgerüstet, das - obwohl hundert Kilometer entfernt - doch tausend Istanbuler das Leben kostete.

Viel schlimmer noch ist es in den Städten der entlegenen und armen Provinz Van im Osten der Türkei, wo die meisten Menschen froh sind, wenn sie überhaupt ein Dach über dem Kopf haben.

Die Provinzhauptstadt Van glich schon vor dem Erdbeben einem improvisierten Flüchtlingslager mit matschigen Straßen, windschiefen Betonbaracken und dem Geknatter von Generatoren während der ständigen Stromausfälle. Im Ersten Weltkrieg zwischen der osmanischen und der russischen Front zerrieben und dem Erdboden gleichgemacht, wurde die Stadt nach dem Krieg ein paar Kilometer weiter von den halbverhungerten Überlebenden unter den Bewohnern wieder aufgebaut – statische Berechnungen zählten nicht zu ihren Prioritäten.

Helfer suchen in Trümmern nach Überlebenden (Foto: pa/dpa)
Ein Bild der Zerstörung nach dem BebenBild: picture alliance/abaca

Armut und Elend in Van

Viel besser ist es hier auch seither nicht geworden. Die von wilden Bergen zerklüftete Provinz Van wird seit Jahrzehnten vom Krieg zwischen den kurdischen PKK-Rebellen und der türkischen Armee gebeutelt. Im Kriegsverlauf wurden viele Dörfer in den Bergen geräumt oder auch verlassen; jahrelang es war den Bauern dort verboten, ihre Felder zu bestellen oder ihr Vieh auf die Bergweiden zu treiben, wo die Rebellen sich versteckten.

Burg Hosap ins Ostanatolien, rund 60 Kilometer von Van gelegen (Foto: pa/dpa)
Die Provinz Van: Bis heute leben die Menschen hier in ArmutBild: picture alliance/dpa

Tausenden Bauernfamilien blieb nichts übrig, als in die Elendsviertel der Städte zu flüchten, wo sie bis heute arbeitslos, verarmt und verelendet in improvisierten Quartieren ausharren.

Dazu kommen heute vor allem in der Provinzhauptstadt die Flüchtlinge aus Iran und Afghanistan, die es über die nahe iranische Grenze geschafft haben, aber nicht viel weiter. Wohnraum ist knapp hier; Statik, Baustahl und Sicherheit sind Luxus.

Autorin: Susanne Güsten, Istanbul
Redaktion: Ursula Kissel