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Nachbar zensiert mit

Martin Roddewig25. Juni 2014

Mehr als 45.000 Webseiten werden zur Zeit in der Türkei geblockt. Es erwischt Pornoseiten, aber auch Homepages von Künstlern, Musikern, Journalisten und Aktivisten. Jetzt wehrt sich die türkische Netzgemeinde.

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Türkische Fahne, davor ein Smartphone (Foto: OZAN KOSE/AFP/Getty Images)
Bild: Ozan Kose/AFP/Getty Images

Ein Vermummter zielt mit seiner Steinschleuder auf den Besucher - zum Glück ist es nur ein Graffiti im Büro der türkischen Hacker-Vereinigung "Alternatif Bilişim". Bunte Zeichen einer jugendlichen Subkultur mitten im grauen Beton eines chaotisch gebauten Istanbuler Geschäftsviertels. "Hackerspace" nennen die Aktivisten ihre Räume, und die muss man erst einmal finden. Sie liegen im asiatischen Teil der Stadt, in Kadıköy, wo der Istanbuler Mittelstand lebt und arbeitet, wo sich kaum ein Tourist hin verirrt.

Rebellen wider Willen

"Alternatif Bilişim" heißt übersetzt soviel wie "alternative Kommunikation". In der Organisation haben sich Computerexperten, Studenten und Professoren zusammen geschlossen. Ali Rıza Keleş ist Programmierer und von Anfang an dabei. "Wir verstehen uns gar nicht so als Hacker oder gar Staatsfeinde. Wir sind eine Bürgerrechts-Organisation, wir setzen uns für die digitalen Rechte der Bürger ein und kämpfen gegen die zunehmende Überwachung des Internets in der Türkei." Dies jedoch ist ein fast aussichtsloser Kampf.

Ali Rıza Keleş (Foto: DW)
Ali Rıza KeleşBild: DW

In der "Weltrangliste der Pressefreiheit" der Organisation "Reporter ohne Grenzen" belegt die Türkei Platz 154 von insgesamt 180 Plätzen und liegt damit noch hinter dem Irak und China. Einer der Gründe ist das neue, sehr weitgehende Internetgesetz, das im März 2014 in Kraft trat: Es erlaubt der türkischen Telekommunikationsaufsicht TIB, Seiten mit "schädlichen, sexuell provozierenden, Gewalt verherrlichenden oder die Persönlichkeitsrechte anderer verletzenden Inhalten" ohne Gerichtsbeschluss zu blockieren - ein Gummiparagraph.

Vor der Zensur sind alle gleich

"Wir wissen nicht einmal genau, wie viele Seiten aktuell blockiert werden. Früher gab es Gerichtsurteile, die zur Sperrung einer Seite führten, und die Urteile waren öffentlich. Heute passiert das unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und wir können die Zahl nur schätzen", sagt Ali Risza Keles. Auf der Seite engelliweb.com werden alle jemals gesperrten Seiten aufgelistet, so sie denn bekannt sind. In der illustren Liste finden sich neben Pornoseiten und mehr oder weniger bekannten Blogs und Nachrichtenseiten auch populäre Schwergewichte wie Google, Twitter, Vimeo oder Soundcloud wieder.

Screenshot einer blockierten Seite in der Türkei (Foto: DW)
So sieht es aus, wenn eine von den türkischen Telekommunikationsbehörden blockierte Seite aufgerufen wird

Ein ungleicher Kampf

Die Mitglieder von "Alternatif Bilişim" wirken resigniert, wenn sie die Möglichkeiten diskutieren, gegen die umfassende Überwachung des Internets anzugehen. Was können sie schon tun? Sie haben im vergangenen Jahr landesweite Konferenzen abgehalten und Demonstrationen mit organisiert, um eine Öffentlichkeit gegen die drohende Verschärfung der Gesetze zu schaffen - erfolglos. Auf ihrer Internetseite alternatifbilisim.org zeigen sie, wie sich die Internetüberwachung - noch legal - umgehen lässt, zum Beispiel durch Anonymisierungsnetzwerke wie Tor oder spezielle Internetserver im Ausland, die einen unzensierten Zugang ins Netz erlauben. Aber diese Maßnahmen sind kompliziert. Die breite Masse erreicht "Alternatif Bilişim" nicht.

Der Nachbar zensiert mit

Noch mehr schmerzt die Aktivisten zu sehen, wie es die Regierung - schließlich ist die Türkei formell ein demokratischer Rechtstaat - schafft, das Netz so umfassend zu kontrollieren: Da ihr die Mittel einer klassischen Diktatur fehlen, setzt sie auf Denunziation. "Tausende Freiwillige helfen der Regierung, das Netz nach kritischen Inhalten zu durchsuchen", sagt Ali Rıza Keleş. "Ich weiß, dass die Regierung - und speziell die Regierungspartei AKP - zudem Social-Media-Agenturen beauftragt hat, das Netz zu überwachen."

Es ist die islamisch-konservative Regierungspartei AKP, die die Zensur des Internets durchgesetzt hat. Auslöser waren die Gezi-Park-Proteste vor einem Jahr, die von den traditionellen Medien anfangs ignoriert wurden - die Bevölkerung informierte sich über Soziale Medien wie Twitter und Facebook und brachte die Regierung nach Jahren an der Macht erstmals ernsthaft in Schwierigkeiten. Das neue Internetgesetz soll dafür sorgen, dass sich das nicht wiederholt.

Istanbul Fußgängerzone (Foto: DW)
Fast nirgendwo wird das Internet so oft genutzt wie in der TürkeiBild: DW

Willkür regiert

Jede Kritik an der Regierung verletzt nun die "Persönlichkeitsrechte" der Regierenden und wird unterdrückt. Selbst ein Witz oder eine missverständliche Äußerung können zu viel sein. Der Jurist und Internetexperte Yaman Akdeniz von der Istanbuler Bilgi-Universität bezeichnet diese Maßnahmen als Zensur von "Orwell‘schem Ausmaß". Ali Rıza Keleş drückt es so aus: "Früher wusste man, wenn eine Seite gesperrt wurde: Das hat den oder den Grund. Heute werden Seiten gesperrt, und alle fragen sich, warum gerade diese?"

Im August stehen in der Türkei die Präsidentschaftswahlen an. Die Mitglieder von "Alternatif Bilişim" befürchten das Schlimmste.