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Türkei besorgt über NSU-Morde

Thomas Seibert15. Februar 2013

Die Mordserie der rechtsextremen Terrorzelle NSU in Deutschland erregt in der Türkei immer mehr Interesse. Abgeordnete aus Ankara wollen zum Prozessauftakt gegen die mutmaßliche Rechtsextremistin Zschäpe reisen.

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Die Witwe des 2006 von der rechtsextremen Terrorzelle NSU ermordeten Mehmet Kubasik kniet in Dortmund weinend vor einem Gedenkstein für ihren Ehemann (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Mit seinem geplanten Besuch zum Prozessauftakt gegen Beate Zschäpe am 17. April 2013 will Ayhan Sefer Üstün ein Zeichen der Solidarität setzen: "Wir wollen die Familien der Opfer unterstützen", sagte der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament diese Woche. Er traf sich dort mit den Mitgliedern des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags, der sich mit den Verbrechen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) beschäftigt.

Üstün und andere türkische Politiker haben das Gefühl, sich in dieser Frage stärker engagieren zu müssen als in der Vergangenheit. Zwar hat die Türkei in den Jahren 2000 bis 2006, als die Verbrechen begangen wurden, stets den Kontakt zu den deutschen Behörden gehalten. Doch auch in Istanbul und Ankara wurden die Morde an acht Türken und einem Griechen lange Zeit als rätselhafte Kriminalfälle gesehen - und nicht als rechtsextremer Terrorismus.

"Tiefer Staat" in der Türkei - "Staat im Staat" in Deutschland?

Heute glauben viele türkische Bürger und auch führende Politiker, in der NSU-Mordserie und den angeblichen Verbindungen zum deutschen Sicherheitsapparat ein Phänomen aus dem eigenen Land wiederzuerkennen: den "tiefen Staat"- rechtsgerichtete Bürokraten, Soldaten und Geheimdienstler, die in der Türkei als selbst ernannte Retter der Republik etliche politische Morde und einige Putschversuche auf dem Gewissen haben sollen. In der Türkei laufen mehrere Gerichtsprozesse, die sich mit mutmaßlichen Umtrieben des "tiefen Staates" befassen. "Auch wir mussten uns vieler ungeklärter Morde aus der Vergangenheit annehmen", erklärte der türkische Justizminister Sadullah Ergin mit Blick auf die NSU-Verbrechen.

Porträt der mutmaßlichen rechtsextremen Terroristin Beate Zschäpe (Foto: Getty Images)
Die mutmaßliche Terroristin Beate ZschäpeBild: Getty Images

Erst vergangene Woche wurde Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) bei einem Besuch in Ankara mit der Ansicht konfrontiert, der NSU-Komplex reflektiere den "tiefen Staat" in der Bundesrepublik. Friedrich wies dies zurück.

Opferfamilien kritisieren auch die Haltung Ankaras

Die Berichte der Familien der türkischen NSU-Opfer sorgen für ein gesteigertes Interesse der türkischen Öffentlichkeit an dem Thema. Im Januar sagte die Tochter eines der Opfer in einem Interview der türkischen Zeitung "Milliyet", die deutschen Behörden hätten sich über Jahre geweigert, außerhalb der türkischen Gemeinschaft zu ermitteln, hätten - im Gegenteil - sogar dort die Täter vermutet: "Nach jedem neuen Mordfall gab es bei uns eine weitere Polizei-Durchsuchung", sagte Semiya Simsek Demirtas, Tochter des ermordeten Enver Simsek, im Interview für die türkische Zeitung. Sie verließ deshalb ihr Geburtsland Deutschland und zog in die Türkei: Das Vorgehen habe ihr gezeigt, dass sie nicht zu Deutschland gehöre.

Simsek kritisierte auch, die türkischen Behörden hätten sich zu lange mit den beruhigenden Stellungnahmen der deutschen Ermittler zufrieden gegeben. Erst seit dem Bekanntwerden von Ermittlungspannen im Fall NSU und den Berichten über eine mögliche Verstrickung von Verfassungsschützern in das rechtsextreme Umfeld der Gruppe reagiert Ankara mit erhöhter Aufmerksamkeit.

Zwei Angehörige der Opfer bei einer Gedenkveranstaltung in Berlin: Semiya Simsek (rechts) und Gamze Kubasik (Foto: dapd)
Zwei Angehörige der Opfer bei einer Gedenkveranstaltung: Semiya Simsek (rechts) und Gamze KubasikBild: dapd

Gewachsenes Misstrauen gegen Deutschland

Künftig will Ankara den Deutschen etwas genauer auf die Finger schauen. Die türkische Regierung erklärte schon 2012 in einer offiziellen Pressemitteilung, die NSU-Verbrechen hätten das Vertrauen der in der Bundesrepublik lebenden Türken in den deutschen Staat erschüttert. Das türkische Parlament registriert inzwischen mit Akribie die Fälle von ausländerfeindlichen Aktionen in Westeuropa, die auf Türken zielten. Für das Jahr 2012 kamen die Parlamentarier dabei auf 15 verschiedene Angriffe, zehn davon in Deutschland. Die Dunkelziffer liege vermutlich sehr viel höher, berichtete Üstüns Menschenrechtsausschuss kürzlich.

Nun könnte der bevorstehende NSU-Prozess eine Gelegenheit bieten, verlorenes Vertrauen wieder herzustellen. Eine transparente und öffentliche Aufarbeitung der Verbrechen vor Gericht im Beisein türkischer Opferfamilien und türkischer Politiker dürfte ihre Wirkung nicht verfehlen. Die Ankündigung, dass der deutsche Untersuchungsausschuss seinen im Sommer erwarteten Abschlussbericht auch in türkischer Sprache veröffentlichen will, wird in Ankara ebenfalls als Zeichen ernsthafter Bemühungen der Deutschen begrüßt. Der türkische Ausschussvorsitzende Üstün betonte jedenfalls, er hoffe, dass die türkisch-deutschen Beziehungen am Ende gefestigt aus der schwierigen Phase hervorgehen würden.