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Schmerzschrittmacher

9. September 2011

Jeder Achte leidet unter chronischen Schmerzen. Jeder 15. bekommt Schmerzmittel - oft Opiate mit heftigen Nebenwirkungen. Aber auch Stromimpulse können Schmerzen stillen - und zwar besser als viele Medikamente.

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Symbolbild Frau, die vor Schmerzen das Gesicht verzieht (Foto: Fotalia / George Mayer)
Bild: Fotolia/George Mayer

Die Leidensgeschichte von Ute ist typisch für viele Menschen, die unter chronischen Schmerzen leiden. Mit 40 Jahren erlitt die lebenslustige und aktive Frau einen Bandscheibenvorfall. Anfangs wurde sie erfolgreich operiert, doch zwei Jahre später kam es zu einem Rückfall, einem sogenannten rezidiven Bandscheibenvorfall.

Eine zweite Operation führte zu einer Entzündung und diese hinterließ schwere Schäden, die auch nicht mehr verheilten. "Die Situation war sehr ausweglos", erinnert sich Ute. "Ich konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen und nicht mehr am Leben teilnehmen." Nur hoch dosiertes Morphium half. "Eigentlich war da nur noch Verzweiflung und keine Möglichkeit, irgendwie ein normales Leben zu führen", sagt sie.

Abhängigkeit von Schmerzmitteln

Eine Elektrodenreihe. Solche Elektroden werden entlang des Rückenmarks von Schmerzpatienten implantiert. Durch elektrische Neurostimulation können diese die Schmerzweiterleitung ans Gehirn blockieren (Foto: DW/Fabian Schmidt)
Plättchen-Elektroden sind in einer Reihe angeordnetBild: DW/F. Schmidt

So wie ihr geht es vielen Schmerzpatienten. Millionen Patienten erhalten regelmäßig Opiate, die abhängig machen können und massive Nebenwirkungen haben. Zum Beispiel können diese Medikamente Depressionen auslösen. Viele Patienten ziehen sich in ihre Wohnung zurück und pflegen keine Freundschaften mehr. Auch Ute hat nach der missglückten Operation acht Jahre lang völlig isoliert gelebt.

Geholfen hat ihr schließlich ein sogenannter Neurostimulator, den ihr Spezialisten an der Kölner Uniklinik einpflanzten. Dieses Gerät, auch Schmerzschrittmacher genannt, ersetzt die Medikamente. Es besteht aus acht winzigen aneinandergereihten Elektroden, die wie ein schmaler Stab entlang einiger Rückenwirbel nahe den Nervensträngen liegen. Sie senden elektrischen Strom aus. Von den Elektroden an der Wirbelsäule führt ein Kabel entlang des Rückens zur Hüfte. Dort liegt eine Batterie mit einem Steuerungsgerät unter der Haut.

"Die Neurostimulation funktioniert durch eine Überlistung des Gehirns", erklärt der Neurochirurg Dr.Thorsten Riethmann. "Wir setzen Elektroden auf das Rückenmark, um dort die Schmerzfasern, die Reize an das Gehirn weiterleiten, auf einem bestimmten Level zu stoppen. Anstelle der Schmerzweiterleitung zum Gehirn spürt der Patient ein angenehmes Kribbeln, wo vorher der Schmerz war."

Für viele Schmerzarten geeignet

Ein Neurostimulator. Dieses Gerät ist die Batterie und der Impulsgeber für eine eletrische Schmerztherapie. Er wird unter der Haut implantiert (Foto: DW/Fabian Schmidt)
Unter der Haut - Batterie und Impulsgeber in einemBild: DW/F. Schmidt

Doch nicht nur nach missglückten Bandscheibenoperationen kann die Neurostimulation chronischen Schmerzpatienten helfen. Sie wird auch bei schweren Virusinfektionen,Verletzungen oder Erkrankungen eingesetzt, die zu dauerhaften und starken Schmerzen führen. Zum Beispiel nach einem peripheren arteriellen Verschluss, wenn Blutgefäße in Armen oder Beinen verstopft sind und trotz Operationen weiterhin Schmerzen auftreten.

Auch bei Durchblutungsstörungen des Herzens (Angina Pectoris) können Patienten unter chronischen Schmerzen leiden. Bei derartigen Herz- und Durchblutungserkrankungen hilft die Schmerztherapie auch bei der Genesung, betont Riethmann. "Durch den Wegfall des Schmerzes wird der Patient körperlich wieder aktiver, dadurch werden die Herzkranzgefäße schließlich besser durchblutet."

Letztendlich kann die Neurostimulation auch Menschen helfen, die durch externe Gewalteinwirkung Gliedmaßen verloren haben und nach Amputationen unter Phantomschmerzen leiden. Deshalb erhalten an der Kölner Uniklinik auch viele Kriegsversehrte oder Opfer von Auto- und Motorradunfällen einen Schmerzschrittmacher.

Die Röntgenaufnahme eines implantierten Schmerzschrittmachers / Neurostimulators zeigt die Position der Elektrodenplättchen entlang der Wirbelsäule und des Impulsgebers sowie der Batterie im Bereich der Hüfte des Patienten (Foto: DW/Fabian Schmidt)
Die Elektrodenplättchen liegen direkt an der Wirbelsäule, der Impulsgeber in der HüfteBild: DW/F. Schmidt

Die Implantation des Gerätes geht relativ schnell und verläuft in der Regel unproblematisch, versichert Riethmann. Nach einem kleinen Hautschnitt wird das Elektodenstäbchen direkt in den sogenannten Epidoralraum geschoben. Das ist der Raum, der das Rückenmark umschließt. Schon nach wenigen Tagen kann der Patient das Krankenhaus verlassen.

Nur bei wenigen älteren Patienten wird die Operation dadurch erschwert, dass das Gewebe um die Wirbelsäule verhärtet ist. Dann führt Riethmann eine sogenannte Laminektomie aus. Dabei wird der Dornfortsatz oder die Wirbelbögen einzelner Wirbel weggestanzt, um Platz zum Einführen der Elektroden zu schaffen.

Schmerz per Fernbedienung ausschalten

Für Ute war der Eingriff nach ihrem langen Leidensweg jedenfalls eine "Kleinigkeit", sagt sie. Ihr Leben habe sich völlig verändert, seit sie den Schmerzschrittmacher trägt – auch wenn sie weiterhin mit ihrer Bandscheibenerkrankung leben muss. "Das ist jetzt eben meine Schmerzmedikation", meint sie. "Ich bin ja nicht geheilt. Ich habe die gleiche Krankheit, die ich vorher hatte". Der Neurostimulator sei einfach der Ersatz für die Medikamente. In ihrem Fall läuft der Schmerzschrittmacher ständig.

Mit dieser Fernbedienung steuert die Patientin die Stärke der Stromimpulse ihres Schmerzschrittmachers. Die Fernebdienung wird über eine runde dosenförmige Antenne mit dem Impulsgeber, der unter der Haut implantiert ist, gekoppelt (Foto DW/Fabian Schmidt)
Mit der Fernbedienung kontrollieren Patienten die Stärke des StromsBild: DW/F. Schmidt

Die Patientin kann jedoch selbst kontrollieren, wie stark sie gegen die Schmerzen angeht. Dazu hat sie eine Fernbedienung, mit der sie die Intensität der Stromimpulse selbst regeln kann. Hin und wieder bekommt Ute auch jetzt noch schwere, stundenlange Krampfanfälle, bei denen sie das Gerät ganz hoch stellen muss. "Früher habe ich dann geschrien vor Schmerzen, das war ganz schrecklich", erinnert sie sich. Jetzt könne sie den Schmerz wegschalten. "Der Schmerz kommt dann in meinem Kopf nicht an."

Die Fernbedienung verbindet die Patientin über eine Antenne, die etwa die Form einer kleinen Cremedose hat, mit dem Impulsgeber. Alle paar Tage muss sie die Batterie aufladen. Der Ladevorgang läuft über elektromagnetische Induktion, ganz ohne Stecker. Denn die Batterie bleibt ja unter der Haut. Also hält Ute die Antenne an ihre Hüfte, dorthin, wo der Schmerzschrittmacher implantiert ist. "Dabei kann man auch kleinere Hausarbeiten erledigen oder kochen oder vor dem Computer sitzen", sagt Ute.

Dr. Thorsten Riethmann, Facharzt für Neurochirurgie am Universitätsklinikum Köln. (Foto: DW/Fabian Schmidt)
Dr. Thorsten Riethmann kämpft gegen chronische SchmerzenBild: DW/F. Schmidt

Eine solche Batterie hält etwa zehn Jahre. Neurostimulatoren gibt es aber schon viel länger. Bereits Ende der 1970er Jahre haben die Neurochirurgen in Köln die ersten Schmerzschrittmacher implantiert, die einige Patienten auch heute noch tragen. Damals waren es noch Geräte mit einpoligen Elektroden und auch die Impulsgeber waren noch nicht so klein und unscheinbar wie heute. Allerdings habe die Schmerzbehandlung durch Neurostimulation in den letzten zehn Jahren einen deutlichen Schub erhalten, betont Riethmann. Durch die technische Entwicklung seien jetzt kleine, leistungsfähige Batterien und bessere Elektroden sowie Impulsgeber mit langer Lebensdauer auf dem Markt.

Autor: Fabian Schmidt
Redaktion: Judith Hartl