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Streit ums Sitzenbleiben

Sabine Damaschke5. April 2013

Eine Milliarde Euro zahlen deutsche Schulen pro Jahr für Schüler, die eine Klasse wiederholen müssen. Einige Bundesländer wollen die international umstrittenen "Ehrenrunden" daher abschaffen.

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Ein trauriger Junge sitzt vor einer Mauer (Foto: Fotolia/Mikael Damkier)
Bild: Fotolia/Mikael Damkier

Winston Churchill, Albert Einstein, Harald Schmidt, Peer Steinbrück - sie alle mussten wegen ihrer ungenügenden Schulleistungen eine Klasse wiederholen. Dennoch werden sie vielen der rund 160.000 deutschen Schüler, denen jedes Jahr das gleiche passiert, als Vorbild präsentiert. Ein Unding sei das, meint der Essener Schulleiter Martin Tenhaven. "Die demütigende Erfahrung glorifizieren wir auch noch als 'Ehrenrunde' und rechtfertigen sie mit den Karrieren prominenter Männer."

Dass es auch anders geht, zeigt das Leibniz-Gymnasium in Essen seit fast zwanzig Jahren. Damals sagte die Schule dem Sitzenbleiben mit besonderen Förderkonzepten den Kampf an. Statt zehn Prozent der Schüler wiederholt heute nur noch knapp ein Prozent die Klasse. Das Gymnasium wurde damit zum Vorbild für viele Schulen - und brachte den Essener Bildungsforscher Klaus Klemm dazu, das Sitzenbleiben genauer unter die Lupe zu nehmen. In einer Studie rechnete er 2009 vor, dass Deutschland für Klassenwiederholungen eine Milliarde Euro pro Jahr ausgibt.

Ohne mögliches Durchfallen keine Leistung?

"Am Beispiel des Leibniz-Gymnasiums habe ich gesehen, dass wir dieses Geld besser präventiv einsetzen sollten“, sagt der Wissenschaftler. Seitdem appelliert er an die Lehrer, ihre Schüler besser zu fördern, statt sie die Klasse wiederholen zu lassen. Doch die Ansichten zum Thema Sitzenbleiben sind unter Pädagogen geteilt - und in einen regelrechten Schlagabtausch ausgeartet, seit die Landesregierung in Niedersachsen Anfang des Jahres angekündigt hat, das "Sitzenbleiben durch individuelle Förderung überflüssig" machen zu wollen. Auch in Hamburg und Berlin soll möglichst Schluss mit der "Ehrenrunde" sein.

Ein Lehrer des Heinrich-Hertz-Europakollegs erklärt seinen Schülern den Unterrichtsstoff noch einmal (Foto: Julia Mahncke).
Den einzelnen Schüler im Blick: So lassen sich Klassenwiederholungen vermeidenBild: DW/ J. Mahncke

Selbst Schüler stehen der Idee, das Sitzenbleiben abzuschaffen, skeptisch gegenüber. Einer Umfrage zufolge sind 85 Prozent dagegen. Insgesamt 73 Prozent der deutschen Bürger wollen an Klassenwiederholungen festhalten. Sie teilen die Meinung, die der Präsident des deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, in den Medien kundtat: "Gäbe es kein Durchfallen mehr, würde sich ein noch größerer Anteil von Schülern überhaupt nicht mehr anstrengen." Der Vorsitzende des Verbandes Deutscher Realschullehrer, Jürgen Böhm, fürchtet sogar um die deutsche Wettbewerbsfähigkeit. "Mit dieser leistungsfeindlichen Einstellung kann man im internationalen Wettbewerb um die besten Köpfe nicht bestehen", mahnt er.

Verwunderung über die deutsche Debatte

Ein Argument, das Bildungsforscher Klemm nicht gelten lässt. Denn der internationale Vergleich zeigt laut Klemm, dass Schüler gerade dort besonders erfolgreich sind, wo es so gut wie kein Sitzenbleiben gibt, etwa in Finnland, Norwegen und Dänemark. Auch in Großbritannien und Japan kennen die Schüler keine Klassenwiederholungen. Während in Deutschland bis zum 15. Lebensjahr etwa jeder fünfte Schüler (21 Prozent) sitzen bleibt, sind es im OECD-Durchschnitt nur 13 Prozent.

Europäische Spitzenreiter im Sitzenbleiben sind dagegen Frankreich, Spanien und Luxemburg. Hier wiederholen über 30 Prozent der Schüler bis zum 15. Lebensjahr eine Klasse. Doch das scheint weder Schüler noch Eltern und Lehrer zu stören. "In Frankreich wundert man sich über die deutsche Debatte", beobachtet Klemm. "Hier ist das Leistungsprinzip seit der französischen Revolution so stark in den Schulen verankert, dass Sinn und Unsinn von Klassenwiederholungen kaum hinterfragt werden."

Die Schüler sitzen hintereinander, der Lehrer erklärt an der Tafel: Typische Unterrichtsform in vielen Ländern (Foto: dpa)
Sitzenbleiben ist Normalität an Frankreichs SchulenBild: picture alliance/dpa

Ehrenrunde-Könige: Pubertierende Jungs

Auch Realschulrektor Lüder Ruschmeyer gibt zu, dass er das Sitzenbleiben an seiner Schule erst nach Veröffentlichung der Klemm-Studie 2009 stärker in den Fokus genommen hat. "Damals haben wir uns die Schulkarrieren unserer Klassenwiederholer genau angesehen", erzählt der Rektor, "und dabei festgestellt, dass sie in weniger als zwanzig Prozent aller Fälle pädagogisch sinnvoll waren". Seitdem geben sich die Lehrer der Realschule Lindlar in der Nähe von Köln noch mehr Mühe, das Sitzenbleiben zu vermeiden. Hier liegt die Sitzenbleiberquote jetzt unter einem Prozent.

Ähnlich wie am Essener Leibniz-Gymnasium gibt es auch in Lindlar häufiger Konferenzen, in denen sich die Lehrer über den Leistungsstand ihrer Schüler austauschen. Die Pädagogen haben ein besonderes Auge auf die schwachen Schüler und fördern sie. Zudem werden ältere Schüler als Lerntutoren eingesetzt oder es wird die Teilnahme an Ferienkursen für versetzungsgefährdete Schüler organisiert. Ein Programm, das vor allem denjenigen hilft, die in Deutschland am stärksten von Klassenwiederholungen betroffen sind: pubertierenden Jungen. Sie machen Dreiviertel der deutschen Sitzenbleiber aus.

Der Schulleiter der Realschule Lindlar, Lüder Ruschmeyer. Er bemüht sich an seiner Schule, möglichst wenig Kinder und Jugendliche sitzenzulassen. Copyright: Realschule Lindlar)
Hält das Sitzenbleiben in den meisten Fällen für unsinnig: Schulleiter Lüder RuschmeyerBild: Realschule Lindlar

"Wenn es in der Pubertät zu Motivations- und Disziplinschwierigkeiten kommt, bewirke ich mit Klassenwiederholungen nichts", sagt Ruschmeyer. "Hier muss ich vielmehr daran arbeiten, dass die Jugendlichen wieder Respekt und Vertrauen zu Lehrern und Mitschülern aufbauen." Damit das Sitzenbleiben ganz abzuschaffen, sind aber weder die beiden Schulleiter noch Bildungsforscher Klemm einverstanden. Ihnen fallen vor allem zwei besondere Lebenssituationen ein, in denen eine Klassenwiederholung Sinn machen kann: Wenn Schüler lange krank waren. Oder wenn sie noch deutlich jünger und unreifer als ihre Klassenkameraden sind.