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Silvio Peritore: "Gleiche Rechte und Teilhabe"

Birgit Görtz8. April 2013

Gleichbehandlung ist für Sinti und Roma in Europa keine Selbstverständlichkeit. Stattdessen erleben sie täglich Diskriminierung. Ein Interview mit Silvio Peritore vom Zentralrat deutscher Sinti und Roma.

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Porträt von Silvio Peritore (Foto: DW)
Silvio Peritore, Mitglied des Zentralrates deutscher Sinti und RomaBild: DW

Am 8. April 1971 kamen in London Bürgerrechtsaktivisten und Repräsentanten der Sinti und Roma aus der ganzen Welt zusammen. Die Delegierten schrieben sich damals auf die Fahnen, für die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Sinti und Roma in ihren Heimatländern einzutreten. Die Teilnehmer sprachen sich einhellig für die Verwendung der authentischen Bezeichnung "Sinti und Roma" anstelle von als diskriminierend empfundenen Fremdbezeichnungen wie beispielsweise "Zigeuner" aus. In Gedenken an dieses Treffen gilt der 8. April heute als internationaler Tag der Sinti und Roma.

Auf dem Welt-Roma-Kongress 1971 ging es zudem um das Gedenken an den Genozid an einer halben Million Sinti und Roma durch das NS-Regime. Immerhin scheint dieses Etappenziel erreicht: Am 24. Oktober 2012 wurde das Mahnmal zum Gedenken an die ermordeten Sinti und Roma in Berlin feierlich eingeweiht. Über das Denkmal und die heutige Situation der Minderheit in Deutschland und Europa sprach die DW mit Silvio Peritore, Mitglied im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.

DW: Vor einem halben Jahr wurde das Denkmal für die Opfer des Völkermords an Sinti und Roma eröffnet. Was hat das Mahnmal gebracht, oder war es nur Symbolpolitik?

Silvio Peritore: Natürlich hat so ein Denkmal symbolpolitischen Charakter. Aber es geht darum, dass man nach 20 Jahren des Konfliktes um die Errichtung des Denkmals auch eine Anerkennung der Opfer des Völkermordes zum Ausdruck bringt. Die Politik spricht immer von der großen Verantwortung, die aus dem Holocaust erwächst. Das wurde auch in den Reden bei der Eröffnung deutlich. Wir messen dem Denkmal eine hohe Bedeutung bei, wie es auch Soni Weisz (ein Holocaust-Überlebender, der bei der Feier am 24.10.2012 eine Rede hielt, Anm. d. Red.) formuliert hat, dass nämlich die Gesellschaft fast nichts aus der Geschichte gelernt hat und heute mehr Verantwortung gegenüber Sinti und Roma wahrnehmen muss. Deshalb ist das Mahnmal natürlich ein wichtiges Symbol.

Medienvertreter stehen am 22.10.2012 in Berlin an der Gedenkstätte für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Foto: Michael Kappeler/dpa
Im Oktober 2012 eingeweiht: das Mahnmal zum Gedenken an die 500.000 ermordeten Sinti und RomaBild: picture-alliance/dpa

Nahezu zeitgleich mit der Einweihung des Denkmals hat Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) eine Debatte um den angeblichen Asylmissbrauch von Zuwanderern aus Mazedonien und Serbien, vor allem Sinti und Roma, losgetreten. Friedrich sagte damals, die steigende Zahl von Asylanträgen von Menschen aus diesen Ländern sei inakzeptabel. Wie geht das zusammen?

Das ist in der Tat eine sehr üble Geschichte. Wir waren wirklich empört, dass ein, zwei Tage danach solche Debatten losgetreten wurden. Da sieht man auch die Widersprüchlichkeit, teilweise auch Verlogenheit der Politik, die an historischen Tagen unter den Augen der Weltöffentlichkeit salbungsvolle Worte gebraucht, in der Tagespolitik dem aber diametral entgegensteht. Friedrich und andere betreiben Wahlkampf, um am rechten Rand Stimmen zu fischen.

Tatsache ist, dass 5.000 bis 6.000 Asylanträge aus Serbien und Mazedonien kommen und auch nicht sehr viele aus Rumänien und Bulgarien. Was den Pauschalvorwurf des Sozialmissbrauchs anbelangt: Wenn ein Mensch die Voraussetzungen erfüllt, dann steht allen EU-Bürgern in jedem EU-Land eine staatliche Transferleistung zu. Auch das ist rechtlich und faktisch Usus für alle EU-Bürger. Trotzdem werden ein paar Tausend Sinti und Roma pauschal hingestellt, als würden sie die deutschen Sozialkassen ausrauben. Das ist wirklich schmutzig.

Ich würde gerne noch einmal sortieren: Rumänien und Bulgarien sind EU-Länder, deren Bürger Freizügigkeit genießen, Serbien und Mazedonien sind keine EU-Mitglieder. Laut Bundesinnenministerium stellten 2012 rund 15.500 Menschen aus diesen beiden Staaten einen Erstantrag auf Asyl. Aus deutschen Kommunen werden Klagen laut, dass die Aufnahme und Integration von weiteren Sinti und Roma nicht mehr zu bewältigen sei. Anwohner aus Städten wie Duisburg klagen über schlimme Zustände in ihren Vierteln, sie würden sich dort nicht mehr wohlfühlen. Was sagen Sie zu diesem Problem?

Warum kommen die Menschen überhaupt nach Deutschland? Es nimmt doch kaum einer wahr, wie es in Ländern wie Rumänien, Mazedonien, Serbien, Montenegro, Ungarn, der Slowakei, Tschechien, Kosovo aussieht - ich könnte auch noch andere Länder nennen. Dort werden Sinti und Roma verfolgt, diskriminiert, sogar ermordet. Sie haben keinen gleichberechtigten Zugang zu Menschenrechten, Bildung, Arbeit, Gesundheitsversorgung, menschenwürdigem Wohnen.

Wir als Zentralrat sagen den Politikern und den Medien, dass in den Ländern Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit diese Armutsflucht, die Flucht vor Bedrohung und rechter Gewalt aufhört. Aber noch tut sich da viel zu wenig. Deswegen kommen die Leute weiter hierher. Und es gibt die historische und humanitäre Verantwortung Deutschlands. Bei allen knappen Kassen der Kommunen - dem kann sich Deutschland nicht entziehen.

Bildbeschreibung: Ein Wohnhaus in Duisburg Marxloh, wo überwiegend Roma aus Rumänien und Bulgarien wohnen. Autor ist unser Korrespondent Christian Stefanescu der auch eine Reportage über die Roma in Duisburg gemacht hat. Zugeliefert durch Zoran Arbutina, 7.12.2012. Copyright: DW/C. Stefanescu
Duisburg: eine Unterkunft von Sinti und RomaBild: DW/C. Stefanescu

Warum hat man denn die Grenzen so schnell geöffnet? Doch auch, weil Deutschland neue Absatzmärkte, neue Produktionsstätten erschließen wollte. Deutschland hat seit Beginn der Öffnung hunderte von Milliarden durch den Verkauf von Gütern und Dienstleistungen verdient. Wenn dann umgekehrt Menschen hierher kommen und Hilfe beanspruchen, heißt es, die Sozialkassen werden ausgeplündert.

Sie sagen also, dass Deutschland eine doppelte Verantwortung hat: resultierend aus dem Holocaust und als großer wirtschaftlicher Profiteur der EU?

Ja, das ist richtig. Wir reden immer von Hilfsgeldern. Brüssel legt immer wieder Programme und Projekte auf. Doch die Heimatländer der Sinti und Roma rufen diese Gelder nicht ab, um infrastrukturelle Maßnahmen einzuleiten und wenn, dann versickern die Gelder im Sumpf der Korruption der lokalen Politiker, die keine Sinti und Roma sind. Dann heißt es aber, Projekte scheiterten an der Mentalität und der Kultur der Minderheit, die sich angeblich nicht einmal in ihrem Heimatland integrieren könne. Es wird sehr vieles falsch behauptet. Unter Umkehr von Ursache und Wirkung werden Sinti und Roma für ihre Situation selbst verantwortlich gemacht. Ich denke, da muss man die Hintergründe erhellen.

NS-Rasseforscher stellen Kopfmodelle von Sinti und Roma her.
Deutschlands historische Verantwortung: Um ihre pseudowissenschaftlichen Theorien zu belegen, stellen NS-Rasseforscher Kopfmodelle von Sinti und Roma herBild: DW

In der deutschen Debatte um Zuwanderung von Sinti und Roma aus Südosteuropa wird in der Regel nicht darauf hingewiesen, dass sie seit sehr langer Zeit in Deutschland integriert leben.

Es wird so getan, als wären die zwölf Millionen europäischen Sinti und Roma eine homogene Masse. Es werden einige, die negativ auffallen, ohne die Hintergründe zu erfragen, stellvertretend für alle herangezogen. Das ist das große Problem. Der integrierte Teil, normale Bürger, teils mit akademischen Berufen und Kunst- und Kulturschaffende, wird nicht wahrgenommen. Was die 70.000 deutschen Sinti und Roma anbelangt: Sie sind in erster Linie deutsche Staatsbürger mit allen Rechten und Pflichten. In zweiter Linie haben sie ihren kulturellen Hintergrund.

Vor diesem Hintergrund: Welchen Stellenwert hat der internationale Tag der Sinti und Roma? Warum braucht es den 8. April?

Dieses Datum hat Symbolcharakter. Er steht für die bürgerrechtliche, gesellschaftliche Emanzipationsbewegung der Sinti und Roma. Aus meiner Sicht ist die Situation die, dass Sinti und Roma nie ohne eine effektive Bürgerrechtsbewegung auskommen werden, weil sie immer wieder einfordern müssen, was eigentlich selbstverständlich ist: nämlich gleiche Rechte und gleiche Teilhabe.