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"Naiver Umgang mit Pädophilie"

Anja Fähnle16. Oktober 2013

Grüne, Liberale und Verbände wie "Pro Familia" stehen wegen ihrer früheren Haltung zum Sex mit Kindern in der Kritik. Pädophilie sei mit "Kinderfreundlichkeit" verwechselt worden, sagt Pädagogikprofessor Uwe Sielert.

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Uwe Sielert, Sozial- und Sexualpädagoge an der Universität Kiel - Foto: privat
Bild: privat

DW: Wieso wurde Pädophilie in den 1970er Jahren so positiv bewertet?

Uwe Sielert: Die Gesamtstimmung der sexuellen Revolution war eine eindeutige Antwort auf die repressive Zeit vorher: Es war eine Sexualkultur des Aufbruchs, der Befreiung und der Emanzipation verbunden mit dem Enthusiasmus, endlich etwas für Kinder und Jugendrechte tun zu können. Über den Begriff Pädophilie war man sich nicht einig und wusste zum Teil gar nicht genau, was darunter zu verstehen war. Einige sind im guten Glauben davon ausgegangen, dass alle, die sich als pädophil bezeichneten, im wahrsten Sinne des Wortes "Kinderfreunde" sind und sich für die Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen einsetzten. Heute meinen viele, dass alle Menschen mit pädophiler Präferenz diese auch mit Kindern ausleben und damit Missbrauch ausüben. Über sexuellen Missbrauch wusste man damals kaum etwas. Heute wissen wir mehr, aber das gesicherte Wissen ist noch viel zu wenig verbreitet und umgesetzt. Damals wussten viele die Differenzierungen noch nicht, die wir heute vornehmen: zwischen Pädophilie, einer erotischen, auch sexuellen Präferenz für Kinder, die aber nicht ausgelebt wird, und Ephebophilie, also die Bevorzugung von Jugendlichen, sowie Pädosexualität als sexuellen Missbrauch von Kindern und abhängigen Jugendlichen, auch oft Pädokriminalität genannt.

Welche kritischen Stimmen gab es damals?

Der Sexualwissenschaftler Günther Amendt und die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer waren zum Beispiel von Anfang an dagegen, dass Schranken zwischen den Generationen aufgehoben wurden. Ziel führender Pädagogen war es damals, das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern zu minimieren. Im Hinblick auf die Sexualität wurde das allerdings von einigen pädosexuell Veranlagten ausgenutzt. Wir Sozialpädagogen wussten erstens, dass man Kindern keine volle Verantwortung und kein "erwachsenes" Bewusstsein über ihre eigene Sexualität zusprechen kann und zweitens, dass man sie in sexueller Hinsicht nicht auf eine Augenhöhe mit Erwachsenen stellen kann. Ich sage bewusst, man wusste es, aber es gab auch Auseinandersetzungen darüber und den bewussten Versuch einzelner Gruppen, das zu leugnen.

Wie sah diese Auseinandersetzung aus?

In der Sexualwissenschaft war ein Streit entbrannt, ob es möglich ist, dass pädophile Menschen zwar sexuell aber nicht mit Gewalt, also nicht pädokriminell mit Kindern umgehen. Ob es also eine pädophile Neigung gibt, die pädagogisch unbedenklich ist. Bei mir waren zwei Seelen in der Brust: einerseits die pädagogische Seele, die eindeutig sagte, das ist falsch, weil der Erwachsene immer mächtiger ist und andererseits die Seele des Sexualforschers, der damals noch über zu wenig wissenschaftliche Erkenntnisse verfügte. Die kritischen Stimmen zur Pädosexualität, die es damals durchaus gab, sind medial zu leise geblieben. Vor lauter Emanzipations-Enthusiasmus hat man naiv bestimmte Dinge abgewartet und dann erst später als problematisch erkannt.

Wie ist ihr Berührungspunkt zum Thema Pädophilie?

Ich habe in den 70er Jahren in Dortmund studiert und habe erlebt, wie die Grünen ihre Parteiorganisation aufgebaut haben. Ich hatte eine Zeit lang überlegt, mich bei den Grünen zu engagieren, wurde aber unsicher, weil dort auch Gruppierungen am Start waren, die Pädosexualität legalisieren wollten. Als Sozialpädagoge hatte ich mit Ausreißern und Straßenkindern zu tun und erfuhr dadurch von der Nürnberger Kinderkommune und dass diese Jugendlichen für freie Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen eintraten. Aus einem klaren erziehungswissenschaftlichen Bewusstsein heraus habe ich gesehen, dass dabei Generationsgrenzen zwischen Kindern und Jugendlichen überschritten werden. Sexualwissenschaftlich musste ich einsehen, dass es noch zu wenig Kenntnis über das Thema Pädophilie gab. Daher habe ich mich damals schließlich nicht bei den Grünen engagiert, obwohl ich heute der Partei wegen ihres Engagements gegen die Fremdbestimmung auch von Kindern außerordentlich positiv gegenüberstehe.

Welche Empfehlung geben Sie im Umgang mit der Pädophilie-Debatte?

Gegenüber der damaligen Zeit der "Rundum-Emanzipation" ist heute ein nüchterner Blick möglich und auch nötig. Ich warne davor, alles Mögliche und auch Unmögliche mit dem Begriff Pädophilie zu verbinden. Die interdisziplinäre Forschung zu diesem Thema und zu Missbrauch in pädagogischen Kontexten beginnt erst jetzt richtig mit den Projekten, die vom Runden Tisch beziehungsweise dem Bundesministerium für Bildung und Forschung vergeben wurden. Vor allem warne ich vor den Tendenzen der sexuellen Denunziation, die immer mit Nichtwissen, vorschnellen Urteilen und unlauteren politischen Strategien verbunden sind. Wir brauchen mehr sexuelle Bildung in der Ausbildung aber auch im pädagogischen Alltag. Wir brauchen mehr Menschen, die sexuelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen fördern, aber gleichzeitig in der Lage sind, fachkundig hinzusehen und hinzuhören, wo diese Selbstbestimmung gefährdet ist.

Uwe Sielert ist Sozial- und Sexualpädagoge, Professor für Pädagogik an der Universität Kiel und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Sexualpädagogik.

Das Gespräch führte Anja Fähnle.