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Schweres Los für die Roma-Mädchen

Tatiana Vaksberg7. Mai 2015

In der Roma-Siedlung im bulgarischen Vidin kriegen die Frauen sehr selten mehr als zwei Kinder. Nicht nur, weil das Geld knapp ist. Es gibt noch einen Grund, berichtet Reporterin Tatiana Vaksberg, die dort gelebt hat.

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Bulgarien Alltag Romaviertel in Vidin (Foto: Tatiana Vaksberg/DW)
Bild: DW/T. Vaksberg

Ein Mädchen zu sein in der Roma-Siedlung in Vidin kann schwer sein. Teddy (Name verändert) hat es offenbar schon längst begriffen, deswegen will sie keine Kinder haben. Eigentlich würde sie sehr gerne Kinder bekommen, aber nur Jungen. Ihre Freundin hat schon ein Kind - "glücklicherweise einen Jungen" - ein zweites will sie aber auf gar keinem Fall: "Sollte es ein Mädchen sein, dann lieber weg von hier, ins Ausland!"

Ich wohne einen Monat in der Siedlung. In dieser Zeit lerne ich nur eine Frau mit fünf Kindern kennen, alle anderen haben eins oder maximal zwei. Sie wollen keine Kinder, denn das Geld ist knapp. Es gibt aber noch weitere Gründe, die man ungerne anspricht, erzählt mir Teddy. Die Frauen wollen keine Mädchen. Sie haben Angst, dass ein weibliches Kind ihr eigenes, trauriges Schicksal ereilen könnte: Ehe mit 14 oder 15, früher Abgang von der Schule, kein Zugang zum Arbeitsmarkt, ein Leben nur der Bequemlichkeit des Ehemanns gewidmet, und dann Oma mit Anfang 30.

Roma-Kirche "Vitleem" in der bulgarischen Stadt Vidin. (Foto: DW/Tatiana Vaksberg)
Die Evangelische Kirche hat Einfluss in der Roma-SiedlungBild: DW/T. Vaksberg

"Hier ist mein Leben schon zu Ende"

"Ich bin 35 und kümmere mich um ein zweijähriges Enkelkind", erzählt Ani. In diesem Satz schwingt sowohl die traurige Erkenntnis mit, dass sie Oma geworden ist in einem Alter, in dem viele Frauen in Europa noch keine eigenen Kinder haben. Aber es ist auch noch etwas anderes, das sie beschäftigt: "Ich flehe andauernd meinen Mann an, nach Deutschland auszureisen. Hier ist mein Leben schon zu Ende. Ich habe ein Enkelkind, vom echten Leben weiß ich aber so gut wie nichts. Im Ausland könnte ich neue Chancen bekommen. Da dürfen die Frauen auch arbeiten und nicht nur den Ehemann bedienen."

Frühehen. Das Phänomen ist bekannt. Aber warum werden eigentlich Tausende minderjährige Mädchen in ein Leben gezwungen, das zu ihrem kindlichen Alter gar nicht passt? Die Roma-Siedlung bietet mir zwar unterschiedliche Antworten auf diese Frage, aber man kann sie alle auf einen Nenner bringen: Die Frau soll ihre Jungfräulichkeit dem Ehemann schenken. Und die Frühehe ist die einzige Garantie dafür.

"Damals habe ich meinem Sohn gesagt, er müsse sich das Mädel schnell holen, ansonsten wird es sich ein anderer schnappen", erzählt mir Ivan. Mit ihm führe ich lange Gespräche über die Rolle des Mannes im Eheleben. "Das war ein Fehler. Das Mädchen war erst 13, als sie geheiratet haben. Sie hat dann mehrmals abgetrieben. Der Doktor sagte damals, sie sollten mindestens ein Jahr keinen Geschlechtsverkehr haben." Sie hätten daraufhin die Schwiegertochter zu sich geholt, um sie zu schützen. "Mein Sohn begann dann aber fremdzugehen. Er war jung, da konnten wir nichts machen…"

"Wir haben das Mädchen einfach geholt"

Eigentlich war die Eheschließung ein typischer Fall von Brautraub, obwohl Ivan dieses Wort gar nicht in den Mund nehmen will. Brautraub als "Tradition" findet er eigentlich nicht mehr zeitgemäß: "Da wird das Mädchen geklaut, und sollte es sich weigern, kann der Mann sie vergewaltigen, um sicherzugehen, dass sie nur ihm gehört. Bei uns war das anders. Wir haben uns das Mädchen einfach geholt." Irgendwie hilflos schwingt in seinem Blick die Bitte mit, ihm recht zu geben.

"Du hast ihm aber doch nicht recht gegeben, oder?", regt sich Milena auf, als sie von diesem Gespräch erfährt. Milena und ich haben uns angefreundet. Es sei ein regelrechter Brautraub gewesen und nichts anderes, schäumt sie vor Wut. Dieses Unding sei immer noch verbreitet. Ja, vielleicht weniger als früher, aber gefährdet seien immer noch alle Mädchen. "Deine Tochter auch?", frage ich sie. Mit meiner Frage treffe ich ins Schwarze. Milena senkt ihren Blick, die selbst gedrehte Zigarette zittert plötzlich zwischen ihren Fingern, mit der rechten Hand geht sie hektisch durch ihr Haar. Ihre Stimme wird rau: "Hör auf damit! Bitte hör einfach auf!"

Roma-Siedlung der Stadt Vidin (Foto: DW/Tatiana Vaksberg)
Frauen haben in der Siedlung wenig zu sagenBild: DW/T. Vaksberg

Eine Dissidentin

Ich habe sie noch nie so angsterfüllt gesehen. Denn Milena ist eine tapfere Frau. Ihre Tochter wird im Sinne der Liebe, Freiheit und Gleichberechtigung erzogen. Das Mädchen weiß mittlerweile, dass die Frau über ihr eigenes Leben bestimmen darf. Als Mutter in der Roma-Siedlung ist Milena so etwas wie eine Dissidentin, die in ihrem Kampf keine staatliche, keine kommunale und auch keine öffentliche Unterstützung erhält. Gegen die Frühehen kämpfen nur die Grundschule und die einflussreichen evangelischen Kirchen in der Siedlung.

Die Einstellung, dass Frauen frei leben dürfen, findet man sehr selten in der Roma-Siedlung. Deswegen lügen die meisten Mädchen hier und behaupten, dass sie freiwillig geheiratet haben. Würden sie das Gegenteil sagen, bekämen sie große Schwierigkeiten. Ihr gesamtes Umfeld würde sie bestrafen.

Weg, nach Deutschland!

Roma-Siedlung der Stadt Vidin (Foto: DW/Tatiana Vaksberg)
Viele wollen einfach weg - am liebsten nach DeutschlandBild: DW/T. Vaksberg

Zwei weitere Frauen erzählen mir von den kollektiven Strafmaßnahmen. Die eine ist Lehrerin, 23, und hat den Durchbruch allein dank ihrer gut ausgebildeten und fortschrittlichen Familie geschafft. Die andere, Schana, möchte "die Zeit zurückdrehen und Journalistin werden". Früher hätte sie Angst davor gehabt, sagt sie, während sie mit meiner Kamera herumspielt und die unterschiedlichen Knöpfe neugierig erforscht. "Wenn man so etwas will, darf man nicht heiraten. Man muss einfach hier weg. Und wenn man scheitert? Dann hat man weder eine Arbeit, noch einen Mann. Und keine Wurzeln mehr." Da sei dann auch keine Hilfe in Sicht.

Wir sitzen zu fünft in einem Lokal. Meine neuen Freunde erzählen mir, dass eine Frau eigentlich gar nicht abends ausgehen darf. Sie muss zuhause die Familie bedienen. Der einzige Ausweg sei der Wegzug nach Deutschland, sind sich meine Tischgenossinnen einig. "Und wieso nach Deutschland, so weit weg? Das geht doch auch in Bulgarien, in einem anderen Umfeld, wo Frauen einen Schulabschluss machen können, über ihre Freunde selbst bestimmen und abends ausgehen dürfen", sage ich. "Ja, im Prinzip hast du recht“, erwidern sie einstimmig. "Aber die Bulgaren beschimpfen uns als schmutzige Zigeuner, wo immer sie uns treffen. Also lieber ab nach Deutschland, da bleibt uns all dies erspart."