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Schmerzen und nicht krankenversichert

Ulrike Hummels1. Januar 2014

In Deutschland leben mehr als 100.000 Menschen ohne Krankenversicherung. Wer nicht versichert ist, häuft hohe Beitragsschulden an. Bis Ende des Jahres konnten Betroffene die Schulden aber loswerden.

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Krankenkassenkarten (Foto: Anja Krüger)
Bild: DW/A. Krüger

Es vergeht kein Tag, an dem Christoph H. keine Schmerzen hat. Er leidet unter starkem Rheuma. Auch mit dem Rücken hat der 55-jährige Probleme. Das kommt vom vielen schweren Heben. Christoph H. pflegt seine bettlägerige Mutter rund um die Uhr. Er bettet sie, wäscht sie und reicht ihr das Essen an. Regelmäßig schaut die Hausärztin nach der 86-Jährigen, die dement ist. Christoph H. selbst ist trotz seiner Schmerzen nicht in Behandlung. Er ist nicht krankenversichert. Seit vielen Jahren nicht. Dabei würde er gerne zum Arzt gehen, vor allem zum Zahnarzt. "Weil ich so lange nicht zum Doktor konnte, sind mir viele Zähne ausgefallen", sagt er.

Christioph H. vor der DAK Krankenkasse (Foto: Anja Krüger)
Die Kasse erlässt Christoph H. seine SchuldenBild: DW/A. Krüger

Keine Leistungen

Er hat seine Krankenversicherung verloren, als er aus dem Hartz-IV-Bezug fiel. Früher hatte er einen guten Job. Den verlor er. Sein Partner verließ ihn, ein guter Freund starb - und Christoph H. fiel in eine tiefe Depression. Die Post von der Arbeitsagentur öffnete er nicht mehr, es dauerte nicht lange, und seine Leistungen waren gesperrt. Er zog zu seiner Mutter, als die ersten Anzeichen ihrer Demenz auftraten. Als seine Depressionen nachließen und die Antriebskraft zurückkehrte, beantragte er Leistungen bei der Arbeitsagentur. Erfolglos. "Wenn Sie Ihre Mutter pflegen, stehen sie dem Arbeitsmarkt ja nicht zur Verfügung", lautete die Begründung seitens des Amtes.

Keine Krankenversicherung - dieses Problem kennt man allenfalls aus den USA. Dort verlieren Hunderttausende Haus und Hof, wenn sie ernsthaft krank werden und eine teure Behandlung brauchen. Der Staat zahlt die medizinische Versorgung für die Armen. Nur mit Mühe ist es Präsident Barack Obama gelungen, für alle Amerikaner eine erschwingliche Krankenversicherung einzuführen.

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Schulden als Strafe

Doch dass Menschen keine Krankenversicherung haben, ist auch in Deutschland ein Massenphänomen. Experten schätzen, dass zwischen 100.000 und 150.000 Menschen nicht krankenversichert sind - obwohl es hierzulande die Krankenversicherungspflicht seit 2007 für gesetzlich und seit 2009 für privat Versicherte gibt. Es sind Selbstständige, die sich die Beiträge nicht mehr leisten können, Arbeitslose, die aus dem Leistungsbezug gefallen sind. Oder aber Ehepartner - oft sind es Frauen - die mit der Scheidung ihre Versicherung verlieren. Wer nicht krankenversichert ist, wird zwar nicht bestraft. Aber er muss sämtliche, seit Bestehen der Versicherungspflicht ausstehende Beträge nach- und einen Säumniszuschlag obendrauf zahlen. Der Zuschlag beträgt im Jahr stolze 60 Prozent der Beitragsschuld.

Alexander Elbers vom paritätischen Wohlfahrtsverband (Foto: Ulrike Hummels)
Alexander Elbers vom paritätischen WohlfahrtsverbandBild: DW/U. Hummel

Bei Christoph H. wären weit über 10.000 Euro fällig. Er lebt von 700 Euro im Monat, die er an Pflegegeld für die Versorgung seiner Mutter bekommt. Die Nachzahlung könnte er nie aufbringen. Das muss er auch nicht. Wer nicht versichert ist und das jetzt ändert, wird von den Beitragsschulden befreit - inklusive Säumniszuschlag. Das sieht ein im Sommer verabschiedetes Gesetz so vor. "Diejenigen, die bisher noch nicht krankenversichert waren, und das bis zum 31.12.2013 noch machen, haben die Möglichkeit, von den rückständigen Beiträgen komplett befreit zu werden", sagte Alexander Elbers von der Schuldnerberatung des Wohlfahrtsverbands Der Paritätische Nordrhein-Westfalen kurz vor Ende der Frist. Diesem Personenkreis wird auch der Säumniszuschlag erlassen. Genutzt haben diese Chance jedoch nicht viele. Der Rücklauf oder die Meldequote liege unter den Erwartungen der Versicherungen, sagte Elbers wenige Tage vor dem Stichtag. Denn viele Betroffene hätten gar nichts von der Stichtagsregelung gewusst.

Noch zu hoher Mindestbeitrag

Das gelte erst recht für Bürger mit Migrationshintergrund, erklärt der grüne Landtagsabgeordnete Arif Ünal, der auch gesundheitspolitischer Sprecher der Düsseldorfer Fraktion ist. Sie erreiche die Information über den Schuldenerlass nicht. "Man muss zielgruppenspezifische Informationen herausgeben", damit diese Gruppen vom Erlass Gebrauch machen können", sagte er kurz vor dem Jahreswechsel. Doch das ist nicht die einzige Schwierigkeit: Der Schuldenerlass löst nicht das Problem, dass viele sich auch den Mindestbeitrag nicht leisten können.

Arif Ünal (Foto: Grüne Landtagsfraktion NRW)
Arif Ünal: Fordert einen geringeren BeitragssatzBild: Grüne Landtagsfraktion NRW

Den muss auch zahlen, wer nichts oder sehr wenig verdient, und keine Sozialleistungen wie Hartz IV bekommt. Hier geht die Kasse von einem fiktiven Einkommen von 898 Euro im Monat aus. Christoph H. wird deshalb einen Krankenkassen- und Pflegeversicherungsbeitrag von rund 155 Euro im Monat zahlen müssen. Für Menschen mit wenig Geld müsse es einen bezahlbaren Mindestbeitrag geben, fordert der grüne Landtagsabgeordnete Ünal. "Das müsste auf jeden Fall unter 100 Euro sein."

Christoph H. wird es mit Mühe und Not schaffen, den Beitrag aufzubringen. "Ich werde mich sehr einschränken müssen", sagt er. Jetzt hat er bei seiner alten Krankenkasse den Antrag auf Wiederaufnahme gestellt. In Kürze kann er wieder zum Arzt gehen. "Ich bin unglaublich erleichtert, bald wieder krankenversichert zu sein."