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Rätselraten mit Arten

Caroline Ring13. Februar 2014

Es kriecht, fliegt, wächst, schwimmt und läuft auf der Erde: das Leben in seinen vielfältigen Formen. Schon lange versuchen Forscher zu beziffern, wie viele Arten es gibt. Global Ideas wagt einen Annäherungsversuch.

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Ein Pfeilgiftfrosch (Foto: pa/dpa)
Ein Pfeilgiftfrosch auf den Falkland-Inseln - auf Exkursionen in die Tiefen des Regenwaldes finden Forscher oft neue ArtenBild: picture-alliance/dpa

Wie viele Tierarten leben auf der Welt? Um es kurz zu machen: So genau weiß das keiner. Schon längst ist niemand mehr in der Lage, den Bestand an Lebewesen auf unserem Planeten zu zählen. Einer australischen Schätzung zufolge sind es 1,9 Millionen unterschiedliche Lebensformen, die benannt und beschrieben sind, davon 1,4 Millionen Tiere.

Dass sich da noch jemand hinsetzt, nachzählt und zu seinen Lebzeiten noch auf ein genaues Ergebnis kommt, ist sehr unwahrscheinlich. Zuletzt konnte das noch vor gut 250 Jahren Carl von Linné, der Gottvater der systematischen Einteilung aller Lebewesen: Er erstellte höchst selbst seinen Katalog "Systema naturae". 4400 Tierarten standen darin, mit Namen und Merkmalen, so wie es heute noch bei Beschreibungen gehandhabt wird.

Keine zehn Jahre später und zahllose Neubeschreibungen reicher, schrieb Linnés Zeitgenosse Johann Samuel Schröters einen Aufsatz mit dem verzweifelten und bis heute aktuellen Titel: "Haben wir noch ein vollständiges System der Natur zu hoffen?" und der Unterzeile: "Und wenn es ist, durch welchen Weg gelangen wir dazu?"

Seitdem herrscht reges Rätselraten sowohl über die Zahl der bekannten Arten als auch über die Summe dessen, was uns wohl insgesamt noch erwarten mag. Was die Methode angeht, werden in vielen Ansätzen bereits bekannte Zahlen weitergerechnet.

Beispielsweise kommt der britische Biologe Robert May auf zehn bis 50 Millionen Tierarten, indem er von deren Körpergröße ausgeht. Danach ergibt sich ein lineares Verhältnis zwischen Körpergröße und Artenzahl - je größer der Körper, desto weniger Arten. Dieser Zusammenhang gilt aber nicht mehr für Tiere, die kleiner als ein Millimeter sind - was bei May Erklärungsnot auslöst, die durch Hochrechnungen aufgefüllt wird und letztlich die Summe ergibt.

In Netze rieselnde Käfer als Grundlage für Schätzungen

Tatsächlich scheint es aber stark vom Ermessen der Autoren abzuhängen, zu welchem Ergebnis so eine Hochrechnung kommt. Ein gutes Beispiel liefert da die Rechnung des US-amerikanischen Käferspezialisten Terry Erwin.
Eigentlich wollte er nur Käfer zählen in den Baumkronen tropischer Regenwälder. Dazu benebelte Erwin das Blätterdach mit einem Insektizid und zählte anschließend, was von dort in seine aufgespannten Netze rieselte. Ein aufwändiges Unterfangen, denn die Tropen versammeln auf ihrer Fläche vermutlich so viele Tierarten, wie alle anderen Lebensräume an Land zusammen genommen. Damit nicht genug: Um die Aufgabe noch umfassender zu gestalten, wählt Erwin Käfer die artenreichste Insektengruppe überhaupt.

Erwin zählte 160 Käferarten, die nur auf dieser einen Baumart leben und rechnete weiter: Bei 50.000 tropischen Baumarten macht das 20 Millionen Gliedertiere in tropischen Bäumen! Aber Moment: Seine eigenen Beobachtungen führen ihn zu dem Schluss, dass man bei so einer Benebelungsaufnahme gar nicht die komplette Vielfalt erwischt, und er schlägt noch einmal ein Drittel drauf.

Illustration: Ein Männchen sprüht etwas auf (Illustration: Klaus Esterluss)
Illustration von Erwins ExperimentBild: Klaus Esterluss

"Ich wollte eine Schätzung abliefern, die so wirklichkeitsnah wie möglich ist, und war von meinen Ergebnissen selbst überwältigt", schreibt er in seinem Aufsatz von 1982. Bei 30 Millionen Insektenarten ist er durch diese Rechnung gelandet - weit entfernt von den 1 bis 1,5 Millionen, die er erwartet hatte. Eine irrsinnig hohe Zahl, die tatsächlich aber kleiner oder noch größer sein kann.

Apropos Anpassung: Würde man zum Beispiel auch noch annehmen, dass jede Pflanze und jedes dieser Insekten zwei allein auf diese Art spezialisierte Parasiten in sich trägt, kommt man locker auf 100 Millionen.

2010 nahm sich eine weitere Forschergruppe Erwins Rechnung vor, passte abermals Faktoren an und kam zu dem Schluss, dass es insgesamt 2,5 bis 3,7 Millionen Gliedertiere geben müsse, von denen mindestens 70 Prozent noch unentdeckt seien.

Eine Arbeit, die sich noch Hunderte von Jahren hinziehen wird, wenn sie das derzeitige Tempo beibehält.

18.000 neue Tierarten werden jedes Jahr entdeckt - aber wo ist Schluss?

Dabei werden pro Jahr durchschnittlich rund 18.000 neue Tierarten beschrieben. Eine Zahl, die ein anderer Rechenansatz aufgreift und weiterverfolgt, um ein globales Bild zu skizzieren. Denn früher war die Quote deutlich höher, schreiben die Forscher um Mark Costello 2012. Dass zu unseren Zeiten weniger Arten beschrieben werden, bedeutet für sie im Umkehrschluss, dass es immer schwieriger wird, neue zu finden - weil alle entdeckt sind.

Die Kurve flacht immer weiter ab, bei Vögeln und Säugetieren sind bis 2050 vielleicht noch jeweils zwei neue Arten zu erwarten. Entsprechend wäre die Arbeit weit schneller abgeschlossen als anderweitig geschätzt, und die Gesamtzahl aller Tierarten läge dann bei 1,8 bis zwei Millionen.

Ähnlich rechneten die Forscher um Camilo Mora 2011 - kamen aber zu einem völlig anderen Ergebnis: Sie berufen sich auf höhere Ebenen der Klassifizierung, also Gattungen und Familien, von denen in der vergangenen Zeit kaum noch welche hinzugekommen sind. Anhand der Geschwindigkeit, mit der solche höheren Ebenen zu ihrer Entdeckungssättigung gekommen sind, berechnen sie für die Artenanzahl 8,7 Millionen als Endprodukt.

Ob wir ein vollständiges System der Natur erhoffen können, bleibt also auch heute noch absolut fraglich. Sicher ist dagegen, dass die Frage nach der globalen Artenzahl reichlich Raum für Zahlenspielereien aller Art liefert.