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Judith Hermann: "Aller Liebe Anfang"

Jochen Kürten14. August 2014

Einst galt sie als Galionsfigur eines neuen weiblichen Schreibens. Die Schriftstellerin Judith Hermann wurde mit ihrem Erzählband "Sommerhaus, später" berühmt. Jetzt legt sie ihren ersten Roman vor: "Aller Liebe Anfang".

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Schriftstellerin Judith Hermann
Bild: picture alliance/POLFOTO/Martin Lehmann

Für was musste sie nicht alles herhalten? Als Leitfigur eines neuen deutschen Fräuleinwunders wurde sie dargestellt. Als Ikone einer jungen deutschen Autorinnengruppe. Als Stimme einer ganzen Generation. Das literarische Debüt der 1970 in Berlin geborenen Schriftstellerin Judith Hermann, der Erzählband "Sommerhaus, später", löste 1998 eine Lawine meist positiver Kritiken aus. Das Buch wurde schnell zum Bestseller und fand auch im Ausland viel Anklang. In 17 Sprachen wurde es übersetzt.

Vom Lebensgefühl junger Menschen

"Sommerhaus, später" versammelte zum Ende des vergangenen Jahrtausends ein Dutzend Kurzgeschichten über das Lebensgefühl junger Leute in der modernen Großstadt. Judith Hermanns Prosa war einfach zu lesen, kurze prägnante Sätze waren ihr Stilmerkmal. Die Geschichten boten weder besonders spektakuläre Handlungsverläufe noch inhaltliche Überraschungen. Und doch: "Sommerhaus, später" traf offensichtlich den Nerv der Leser.

Buchcover: Judith Hermann, Sommerhaus später (Foto: Fischer Verlag)

Stimme einer ganzen Generation

Die Autorin galt fortan als führende Stimme einer neuen, jungen Schriftstellerinnen-Generation, wurde im In- und Ausland herumgereicht, interviewt, zitiert, ihre Geschichten von der Leserschaft verschlungen. Deutschland feierte damals einen neuen Stern am literarischen Himmel. Vier Jahre später folgte ein zweiter Band mit Erzählungen ("Nichts als Gespenster"), vor fünf Jahren erschien ein dritter ("Alice"). Die Reaktionen fielen nicht mehr ganz so enthusiastisch aus, vielleicht auch, weil sich bei Vielen das Gefühl der Wiederholung einstellte. Doch der Name Judith Hermann blieb im Gespräch, nicht zuletzt weil einige ihre kurzen Prosastücke auch verfilmt wurden.

Die Frau und der Stalker

In diesem Herbst nun erscheint der erste Roman der Autorin, "Aller Liebe Anfang". Auf etwas mehr als 200 Seiten geht es um eine junge Frau, Mutter einer kleinen Tochter, die mit ihrem Mann, der beruflich viel auf Reisen ist, in irgendeiner nicht näher beschriebenen Stadt wohnt und von einem Stalker belästigt wird. Der Mann, der nur ein paar Häuser weiter wohnt, stellt der Protagonistin namens Stella nach, in dem er tagtäglich an deren Haus vorbeistreift, versucht Kontakt aufzunehmen, Briefe mit kurzen, kryptischen Botschaften in den Briefkasten wirft. Stella verweigert jedoch jeglichen Kontakt. Jason, ihr Mann, ist zunächst keine große Hilfe.

Reihenhaussiedlung mit Sonnenkollektoren (Foto: KfW-Bildarchiv / Thomas Klewar)
In der Anonymität einer Reihenhaussiedlung versteckt sich der StalkerBild: KfW-Bildarchiv/Thomas Klewar

Reduktion der Sprache

Im Laufe der Handlung entwickelt Judith Hermann durchaus einen gewissen Erzählsog. Der Leser verfolgt das Verhältnis der literarischen Hauptfigur zu ihrem Peiniger gespannt. Wieder trifft man in "Aller Liebe Anfang" auf kurze, einfache Sätze, die Prosa zeigt sich befreit von jeglichen erzählerischen und stilistischen Schlacken.

Stella liest ihrer Tochter Ava immer wieder aus Büchern vor:

Sie liebt einfache Sätze, Stella weiß, dass Ava am zufriedensten ist mit einer Geschichte, in der eigentlich nichts passiert. Eine Geschichte ohne Pointe, vielleicht auch ohne Aufregung, eine Geschichte, die vom Gleichmaß aller Tage erzählt, davon, dass alles bleibt, wie es ist.

Fortschreitende Lebensjahre

Das könnte man auch auf das literarische Konzept der Judith Hermann beziehen. Stilistisch hat sich bei der Autorin beim Sprung von der kurzen zur langen Form nicht viel verändert. Wohl aber inhaltlich. Ging es in den Erzählungen Judith Hermanns meist um das Lebensgefühl junger Leute, so verschiebt Hermann hier ihren Fokus. Jetzt ist es die Gefühls- und Gedankenwelt einer Mutter und Ehefrau, die die Handlung vorantreibt, einer Frau, deren Jugend schon ein paar Jahre zurückliegt, einer Jugend auch, die wir aus den Erzählungen der ersten Bücher der Autorin kennen:

Buchcover Aller Liebe Anfang (Foto: Fischer Verlag)
Bild: Fischer-Verlag

Das ist nicht lange her. Stella kann nicht sagen, dass sie dieses Leben vermissen würde. Sie ist heute gern allein, früher war sie nicht gern allein, so einfach ist das, sie weiß nur nicht mehr genau, wann diese Veränderung eigentlich eingetreten ist. (…) Das liegt an diesen Kindern, sie fressen dich auf...

sagt wenig später Stellas Freundin Clara.

Eine Mutter und ihre Ängste

Der Roman ist eine Art Fortschreibung der frühen Erzählungen, knüpft er doch an Lebenssituationen einer Frau an, die mitten im Leben steht:

Sie liegt auf der Chaiselongue im Wohnzimmer auf der Seite, die Decke zwischen den Knien. (…) Wenn sie so liegt, sieht sie wie eine junge Frau aus, wie die Frau die sie einmal gewesen ist.

Bleibt die Frage nach der Figur des Stalker. "Aller Liebe Anfang" ist ein Buch, das möglicherweise von der tief sitzenden Angst vor dem Verlust der bürgerlichen Existenz handelt. Die Familie, streng genommen nur die Einheit Mutter/Tochter, wird hier als fragiles Gebilde gezeichnet, das jederzeit von Außen zerstört werden kann. Nicht nur von Stalkern. Auch von anderen Eindringlingen - dem Ehemann zum Beispiel.