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Sir Roger Norrington zum 80. Geburtstag

Rick Fulker11. März 2014

Der einstige Pionier der historischen Aufführungspraxis ist einer der gefragtesten und einflussreichsten Dirigenten weltweit. Provokativ und schneidig räumt er weiterhin die Musikwelt auf.

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Dirigent Sir Roger Norrington dirigiert (Foto: Copyright 2012)
Bild: Copyright 2012

Er dirigiert lächelnd, mit minimalistischen Gesten, aber mit zupackender, einnehmender Intensität. Der Funke springt vom Dirigenten auf die Musiker über. Und auf das Publikum: "Ich liebe es, beim Musikmachen Spaß zu haben", erzählte er der DW, "auch wenn es sehr ernste Musik ist. Manchmal sage ich den Orchestern: 'es muss nicht wie Arbeit klingen!' Denn irgendwie ist Musik zur Unterhaltung da, um unsere Seele aus der Gosse, in der wir sonst alle enden würden, in eine besondere Welt mitzunehmen."

Der unakademische Akademiker

Norringtons Umgang mit den größten Werken der Musikliteratur klingt tatsächlich nie nach Arbeit und betont unakademisch. Dabei wurde er am 16. März 1934 in der Universitätsstadt Oxford als Spross einer Akademikerfamilie geboren: Sein Vater war Präsident des altehrwürdigen Trinity College. Bereits in jungen Jahren spielte Roger Geige und sang. Er studierte zunächst Literatur und Geschichte in Cambridge. 1962, während seines Dirigierstudiums am Royal College of Music in London, gründete er den Heinrich Schütz Choir, mit dem er sich auf die Aufführung alter Musik spezialisierte. Ein musikalisches Examen hat er nie gemacht; Berufsmusiker wurde er erst mit 28.

Anfang der 1970er Jahre wurde Norrington musikalischer Direktor der neu gegründeten Kent Opera Company und leitete dort rund 40 Opernproduktionen. 1978 gründete er die auf historischen Instrumenten spielenden London Classical Players. Zehn Jahre später sorgte er für eine Sensation auf dem CD-Markt: Mit einer Gesamtaufnahme der Sinfonien Ludwig van Beethovens, gespielt auf historischen Instrumenten. Den verblüffenden Originalklang erreichte Norrington dabei nicht nur durch die Darmbesaitung der Streicher, sondern auch durch die historisch getreue "Beethoven-Sitzordnung" im Orchester - erste Geigen links, zweite Geigen rechts - und die atemberaubend flotten Tempi. Diese, wird Sir Roger nicht müde zu betonen, würden genau durch Beethovens Metronom-Angaben vorgegeben.

Sir Roger Norrington in einem Pariser Bahnhof(Foto: Coupannec/ Leemage)
Stets auf ReisenBild: picture-alliance/maxppp

Was dem Komponisten vorschwebte

Durch das ausgiebige Studium der Quellen und der Aufführungspraxis warf Norrington den jahrzehntelang gültigen spätromantischen Interpretationsstil über Bord. Der Begriff "Interpretation" ist für ihn ein Reizwort: "Eine Mozart-Symphonie muss man nicht 'interpretieren'. Wenn man weiß, wie Mozart gearbeitet hat, hat man gar keine Wahl. Denn ich möchte, dass die Musik so klingt, wie Mozart, Beethoven oder Dvorak sie sich vorgestellt haben. Vergessen Sie 'Interpretation'. Man muss die Regeln kennen, genauso wie die Verkehrsregeln. Und wenn einige Dirigenten dann sagen: 'Da bleibt doch kein Platz mehr für meine Kunst, für die Inspiration!', antworte ich: 'Unsinn! Finden Sie heraus, was Bruckner wollte und spielen Sie es so!'"

Von 1998 bis 2011 wirkte Norrington als Chefdirigent des Stuttgarter SWR-Sinfonieorchesters. Das Ergebnis war der "Stuttgart Sound" - wie die Fachwelt ihn nennt - von Klarheit geprägt, mit zügigen Tempi und vor allem frei vom Vibrato in den Streicherstimmen. Denn Norringtons Forschungen haben ergeben, dass der Gebrauch von Vibrato erst in den 1920er Jahren zur gängigen Spielpraxis wurde.

Rigoros und provokant

61 CDs und DVDs sowie Hunderte von Konzertaufnahmen waren der Ertrag seiner Stuttgarter Zeit. Danach wechselte Norrington zum Zürcher Kammerorchester, unterhält auch enge Verbindungen zum Kammerorchester Paris, zum Orchestra of the Age of Enlightenment, zum Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und zur Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Mit diesem Erfahrungsreichtum kann er sich ein Urteil über die Orchesterwelt erlauben: "Das heutige Niveau der Orchester ist wohl das höchste, das es in der Geschichte jemals gegeben hat. Und die Leute werden sich allmählich der Spielmöglichkeiten bewusst.“

Dirigent Sir Roger Norrington bei einer Probe in Köln (Foto: picture-alliance/dpa)
Wie immer hochkonzentriertBild: picture-alliance/dpa

Heute ignoriert kaum ein Dirigent die Grundsätze der historisch informierten Aufführungspraxis. Dies gilt selbstverständlich auch für Orchester, die auf modernen Instrumenten spielen. Dennoch hat man den Eindruck, dass die Pionierarbeit Sir Roger Norringtons weiter geht. Ob mit den Orchestern in London, Paris, Tokio, Berlin, Amsterdam, Boston, Chicago, Detroit, Philadelphia oder San Francisco, überall räumt er rigoros auf, provoziert mitunter, zeigt sich bereit, auch die eigenen Errungenschaften zu überdenken - und er straft das Vorurteil Lügen, dass die historische Aufführungspraxis trocken und akademisch klingt. Norrington spielt Bruckner ohne Pathos, Wagner unerhört schnell. Auch das begründet er historisch: Denn Richard Wagner hat sich oft über die Dirigenten beklagt, die seine Musik zu langsam spielten.

Optimistisch in die Zukunft schauend

Dirigent Sir Roger Norrington (Foto: Copyright 2012)
Bild: Copyright 2012

Der Dirigent, der Mitte der Neunziger Jahre eine schwere Krebserkrankung überwunden hat, wurde 1997 von Queen Elizabeth II zum Ritter geschlagen. Mit seinem ganz eigenen Optimismus sieht Sir Roger, der sich gern auf seinen idyllischen Landsitz im englischen Berkshire zurückzieht, recht zuversichtlich in die Zukunft der von CD-Verkaufsrückgang und Orchestersterben gebeutelten Klassik-Welt: "Der Marktanteil klassischer Musik scheint rückläufig zu sein", sagte er. "Die Konkurrenz ist riesig. Und wer täglich sechs Stunden am Computer verbringt, hat keine Zeit mehr ins Konzert zu gehen. Es gibt aber viele Leute, die Musik downloaden. Mit Leidenschaft. Vielleicht kommt irgendwann der Punkt, wo Klassik nur noch wie Jazz in Keller-Clubs gespielt wird. Wir Musiker würden dann weniger verdienen oder auch überhaupt kein Geld mehr bekommen. Aber diejenigen von uns, die an Musik interessiert sind, würden nach wie vor Musik machen, weil wir sie lieben."