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Rückblick aufs Jahr 1913

Jochen Kürten3. Januar 2013

Was geschah vor 100 Jahren? Und was folgt daraus für die Gegenwart? Der Autor Florian Illies hat sich Gedanken über die künstlerische Avantgarde vergangener Zeiten gemacht.

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Handkoloriertes Glasdiapositiv der Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläums-Kirche (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/IMAGNO/Österreichisches Volkshoc

Was sagen uns heute Ereignisse, die sich vor genau 100 Jahren abgespielt haben? Lassen sich daraus Schlüsse ziehen? Der Publizist und Kunsthistoriker Florian Illies erzählt in seinem Buch, was sich genau vor einem Jahrhundert ereignet hat - im Jahr 1913. Und das kommt offenbar an. In den Wochen vor Weihnachten stürmte der Band die wichtigsten Bestsellerlisten in der Rubrik Sachbuch. "1913. Der Sommer des Jahrhunderts" dürfte in den zurückliegenden Wochen eines der beliebtesten Geschenke in Deutschland gewesen sein.

Kulturelle Chronik eines Jahres

Das sagt zunächst einmal nicht viel über das Buch - wohl aber über das Kaufverhalten Geschenke suchender Menschen. Schon häufiger gab es das Phänomen, dass Bücher zwar gekauft und verschenkt, nicht aber gelesen werden, jedenfalls nicht in der Breite. Ein Buch mit schlichter Jahreszahl im Titel spricht zunächst einmal viele an. Vor allem, wenn es um ein Jahresjubiläum geht, das uns nun bevorsteht. Und wenn dieses Buch dann noch hübsch verpackt in einer zart-pastelligen Verpackung steckt, macht es sich gut auf dem Gabentisch. Doch wie steht es mit dem Inhalt? Ist der tatsächlich bestsellertauglich?

Illies hat vor zwölf Jahren schon einmal einen Bestseller geschrieben. In seinem Buch "Generation Golf" definierte er das Lebensgefühl einer ganzen Generation - der um das Jahr 1970 geborenen Deutschen. "1913" setzt nun früher an. Und es ist ein ganz anderer Text geworden: eine Art kulturelle Chronik, gehalten im Stile eines Romans. Was aber ist nun der Reiz des Buches? Einhundert Jahre später wollen viele gerne wissen, was damals geschah. Möglicherweise mag man auch vorausschauen. Doch geht das? Kann man quasi kapitelweise Schlüsse für die Gegenwart ziehen, gar für die Zukunft? Was bringt uns das Jahr 2013?

Florian Illies (Foto: dpa)
Hat ein "Jahrhundertwerk" geschrieben: Florian IlliesBild: picture-alliance/dpa

Zusammentreffen der Künstler und Literaten

Zumindest eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Man wird nach Ende der Lektüre sämtliche - kulturellen - Jahrestage der kommenden zwölf Monate intus haben, wird wissen, an was in den kommenden Monaten erinnert werden wird. Doch Vorsicht: Florian Illies Buch ist im Deckmantel flüssig und anschmiegsam geschriebene Prosa, ein Brevier der Hochkultur! Der Autor ist studierter Kunsthistoriker, war ein Star des deutschen Feuilletons der großen Zeitungen. Illies war Kulturchef der "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung", leitete den Literatur- und Feuilletonteil der "Zeit" und gab eine anspruchsvolle Kunstzeitschrift heraus. Also: Pure Unterhaltung, gar leichte Kost darf hier niemand erwarten.

Zurück zur Eingangsfrage also: Was sagen uns die Erlebnisse, Nöte und Glücksgefühle der Künstler und Literaten, der Komponisten, der Geisteswissenschaftler und der Psychoanalytiker vor 100 Jahren? Denn um die geht es. Rund zwei Dutzend Größen der Malerei und Literatur, der Wissenschaft und der Philosophie begegnen dem Leser. Es geht um bahnbrechende Werke auf der Leinwand und zwischen zwei Buchdeckeln, um Skandale im Konzerthaus und um verstörende Erkenntnisse der Sinnsucher jener Zeit. Das Personal, das uns Illies vorstellt, hat ausnahmslos klangvolle Namen: Thomas Mann und Rilke, Kafka, Kirchner und Kokoschka, Strawinsky, Freud und Jung und noch einige mehr laufen uns über den Weg.

Der Schriftsteller Franz Kafka in der Altstadt von Prag. (Foto: dpa)
Der Schriftsteller Franz Kafka in der Altstadt von PragBild: picture-alliance/dpa

Politik spielt nur eine Nebenrolle

Sicher, auch Stalin und Hitler tauchen auf, es ist die Rede von moderner Massenkultur und ein paar Erfindungen der Zeit, aber all das spielt nur am Rande eine Rolle. Wohl auch, um zu zeigen, was sich alles zur gleichen Zeit abspielte. Dass Hitler und Stalin mit jungen Jahren ganz andere Dinge im Kopf hatten als diejenigen, von denen im Buch ständig die Rede ist. Die aber dann, drei Jahrzehnte später, die Werke ebenjener Künstler mit Füßen treten sollten. Vermutlich könnte man über jedes Jahr des Jahrhunderts ein solches Buch schreiben. Auch wenn damals, ein paar Monate nach der Jahreswende 1913/1914, der erste große Krieg ausbrach, und viele später davon sprachen, in diesem Jahr 1913 habe die Welt "ihre Unschuld" verloren.

Aber ist das richtig? Hat nicht die Welt schon in den Jahrhunderten zuvor unendlich viele Grausamkeiten gesehen? Kriege und Massaker, Pogrome und die Vernichtung ganzer Völker? Kann man Geschichte tatsächlich an einzelnen Tagen, Wochen, Monaten festmachen, sie mit Bedeutung für die Zukunft aufladen? Je mehr man darüber nachdenkt, umso ferner rückt jede mögliche Antwort, und es bleibt einem selbst überlassen, ob man sich auf dieses Spiel einlässt: anzunehmen, hier sei eine friedliche Epoche beendet worden und ein "Zeitalter der Extreme" habe begonnen, wie der Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert zwischen den Jahren 1914 und 1989 einmal nannte.

Gruppenfoto verschiedener Psychoanalytiker mit Sigmund Freud, Abraham Brill, C.G. Jung, Stanley Hall, Ernest Jones und Sándor Ferenczi an der Clark University. (Foto: ullstein bild-Imagno)
Hauptdarsteller bei Florian Illies: Sigmund Freud, C.G. Jung und KollegenBild: ullstein bild-Imagno

Hochkultur als Bestsellerstoff

Fest steht zumindest eines: Hier ist ein Autor, der sich mit allen Fasern seines Leibes bekennt zum "alten Europa", zur Kunst und Kultur klassischer Prägung. Und der das in wunderbar "altmodischer" Prosa aufschreibt. Wenn man in Zeiten, in der das Medium längst wichtiger geworden ist als die Botschaft, ein Buch schreibt über solche Dinge, dann ist das ebenso mutig wie richtig. Künstlerische Avantgarde vergangener Zeiten, Kafkas Schriften und Schönbergs Komposition, der Streit zwischen Sigmund Freud und seinem Schüler C.G. Jung, all das sind nicht gerade Themen für einen Bestseller. Hauptschauplätze des Buches sind vornehmlich alte europäische Kulturstädte wie Wien und Prag. Wenn nun also solch ein Buch die Bestsellerlisten stürmt, dann ist das erfreulich. Jetzt müssen die Beschenkten das Buch nur noch lesen. Das wäre ein hoffnungsvolles Zeichen für das Jahr 2013.

"1913" - Buchcover, (Foto: Fischer Verlag)
Hat die Bestsellerlisten gestürmt: Das Buch über das Jahr vor dem WeltkriegBild: Fischer Verlag

Florian Illies: 1913 - Der Sommer des Jahrhunderts, S. Fischer Verlag 2012, 320 Seiten, ISBN 978-3-10-036801-0.