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"Die Menschen sind in großer Not"

Jeanette Seiffert23. Juli 2014

Die Dschihadisten im Irak wüten weiter: Die Christen in Mossul sind mittlerweile fast geschlossen in die kurdischen Gebiete geflohen. Eine enorme Belastung für die Region, beklagt der Bürgermeister von Erbil, Nihad Qoja.

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Nihad Latif Qoja, Bürgermeister von Erbil. Foto: Shamal Sharef/DW
Bild: DW/S. Sharef

Deutsche Welle: Herr Qoja, wie sehr sind Sie in Erbil von dieser neuen Flüchtlingswelle betroffen?

Nihad Qoja: Wir spüren das sehr stark. Es gab ja schon vorher mehrere Flüchtlingswellen nach Erbil, aus dem ganzen Rest des Irak. Auch bisher waren darunter viele Christen, weil sie zum Beispiel in Bagdad Angst um ihr Leben hatten. Wir haben mittlerweile insgesamt in den kurdischen Gebieten im Nordirak fast eine Million Flüchtlinge, davon sind etwa 250.000 aus Syrien, der Rest aus anderen Teilen des Irak.

In welchem Zustand kommen die Menschen bei Ihnen an, die jetzt aktuell aus Mossul und anderen Städten geflohen sind, und welche Hilfen erhalten sie?

Die Menschen sind wirklich in großer Not. Manche Familien haben zum Glück Angehörige oder Freunde, die sich um sie kümmern, die kommen einigermaßen zurecht. Die meisten aber leben in Flüchtlingslagern, und die sind völlig überfüllt. Manche von denen, die Mossul fluchtartig verlassen mussten, haben nicht mal einen Cent Geld in der Tasche, um sich etwas zu kaufen. Viele kommen hungrig und durstig hier an, zum Teil sind sie zu Fuß hierher marschiert. Sie werden hinter der Grenze erst mal aufgenommen und betreut, so gut es eben geht. In einer zweiten Phase werden die Flüchtlinge dann in sichere Gebiete weiter hinter der Grenze gebracht, in Städte und Dörfer.

Das Problem ist, dass wir hier einfach nicht genug Ressourcen haben, um mit einer so großen Anzahl an Flüchtlingen klarzukommen. Deshalb haben wir alle internationalen Hilfsorganisationen aufgerufen, uns bei der Bewältigung dieser Aufgabe zu helfen. Im Moment befindet sich eine Delegation aus Deutschland in Erbil, vom Technischen Hilfswerk. Ich hoffe, dass andere Organisationen nachfolgen, um diesen Menschen wenigstens in geringem Umfang zu helfen. Denn wir kommen alleine damit nicht zurecht.

Sind die Christen denn in den Kurdengebieten sicher, oder müssen Sie befürchten, auch dort verfolgt zu werden?

Sie sind bei uns absolut sicher. Wir haben schon immer viele Christen hier gehabt, seit Jahrhunderten leben hier Kurden, Moslems und Christen ohne Probleme zusammen. Jeder geht seiner Religion nach, man toleriert und hilft sich gegenseitig. Die kurdische Bevölkerung geht auf die Menschen zu, die Christen können sich hier wie in einer zweiten Heimat fühlen.

Im Moment ist ja überhaupt nicht absehbar, ob und wann die Dschihadisten gestoppt werden und die Christen nach Mossul zurückkehren können. Können sie denn dauerhaft in Erbil bleiben?

Natürlich können sie hier bleiben, niemand wird abgewiesen oder zurückgeschickt. Wir sagen immer: Das irakische Kurdistan ist eine Heimat für alle Menschen im Irak. Das war in den letzten 60, 70 Jahren immer so, wenn die verschiedenen irakischen Regierungen die Menschen politisch unter Druck gesetzt haben, die dann zu uns in den Nordirak geflüchtet sind. Und das bleibt auch so, weil die kurdische Gesellschaft tolerant ist. Trotzdem muss dieses Problem international gelöst werden, indem man der kurdischen Regionalregierung beisteht und Hilfe leistet.

Haben die Flüchtlinge denn in Erbil überhaupt irgendeine eine Perspektive, zum Beispiel Arbeit zu finden?

Jeder Mensch ist frei, dort zu arbeiten. Und sie werden auch schnell integriert, wenn es gelingt, Arbeit zu finden. Aber eine kleine Region kann nicht alleine eine Million Menschen versorgen und für sie Jobs finden. Selbst in einem großen Industrieland wie Deutschland finden Flüchtlinge oder Ausländer, die gerade angekommen sind, nur schwierig eine Arbeit - wie soll das dann in einem Land wie dem unseren funktionieren?

Die Kurdengebiete im Norden Iraks sind aktuell zum einzigen Bollwerk gegen die Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) geworden. Viele sagen voraus, dass Erbil zum "neuen Bagdad" werden könnte: Immer mehr westliche Diplomaten nutzen die dortige Regionalregierung als Anlaufstelle. Können Sie sich vorstellen, dass Erbil der neue Mittelpunkt der Irakpolitik des Westens wird?

Erbil ist schon zu einer zweiten Hauptstadt des Irak geworden. Wir haben über 30 ausländische Vertretungen, es sind viele UN-Institutionen hier in Erbil angesiedelt, viele internationale Großfirmen sind hier vor Ort: Erbil ist längst der Ersatz für Bagdad geworden.

Viele sind der Meinung, dass die Kurden damit der Möglichkeit, einen eigenen Staat zu bekommen, so nahe wie noch nie gekommen sind. Sehen Sie das auch so?

Wir sind einem Staat sicher näher gekommen. Aber wir betonen auch immer, dass wir in einem friedlichen, demokratischen Irak bleiben werden, wenn sich alle politischen Fraktionen auf die irakische Verfassung stützen. Aber wenn das Problem zwischen Sunniten und Schiiten weiter eskaliert, sind wir nicht bereit, uns weiter in diesen Konflikt hineinziehen zu lassen. Dann werden wir unseren eigenen Weg gehen.

Nihad Latif Quoja ist Bürgermeister von Erbil, die Hauptstadt des kurdischen Gebiets im Irak und Sitz der autonomen Region Kurdistan. 1981 war der ehemalige Sportlehrer vor dem Saddam-Regime nach Deutschland geflohen und lebte mehr als zwei Jahrzehnte lang in Bonn. Dort war er unter anderem in der irakischen Oppositionsbewegung aktiv, bis er 2004 in seine Heimat zurückkehrte.

Das Interview führte Jeanette Seiffert.