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Prozess gegen Roma in Nancy

Romy Straßenburg7. Oktober 2013

In Nancy stehen 27 kroatische Roma vor Gericht. Zeitgleich diskutiert die französische Öffentlichkeit über die Integration dieser Minderheit.

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Angeklagte in Nancy auf der Anklagebank (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Hinter einer Glasscheibe sitzen sie dicht nebeneinander auf Holzstühlen. Hinter jedem der Angeklagten steht ein Polizeibeamter. Die insgesamt 27 kroatischen Männer und Frauen gehören drei Roma-Familien an. Sie reisten in den letzten Jahren durch Deutschland, Belgien und Frankreich und sollen in großem Umfang Diebstähle begangen und Menschenhandel betrieben haben. Dafür hätten sie ihre Kinder "vom jüngsten Alter an nur zum Stehlen ausgebildet", sagt Staatsanwalt Grégroy Weil im ostfranzösischen Nancy. Die Angeklagten stehen seit dem 1. Oktober vor Gericht, ihnen drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die mutmaßliche Anführerin der Bande, eine 66-Jährige Kroatin, wurde ebenfalls an Frankreich ausgeliefert und wartet noch auf ihren Prozess.

"Es handelt sich um eine extrem strukturierte Organisation", beschreibt ein mit dem Fall betrauter Gendarm die Situation. Die 'Bediensteten' hätten verschiedene Ränge: Von den Anführern, auch Leutnants genannt, bis hin zu den Arbeits-Ameisen des Systems: den Kindern ab zehn Jahren.

Der Prozess fällt in eine Zeit aufgeheizter Stimmung gegen Roma in ganz Frankreich - angestoßen durch den omnipräsenten Innenminister Manuel Valls, der gerne den Gendarm der Nation spielt. Er hatte wiederholt behauptet, Roma hätten einen extrem "andersartigen" Lebensstil. Nur eine kleine Minderheit könne in die französische Gesellschaft integriert werden. Glaubt man einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut BVA, teilen 77 Prozent der Franzosen seine Ansichten. Der Prozess in Nancy leistet den Ängsten und Vorurteilen weitern Vorschub.

Kind auf einem Roller (Foto: dpa)
Ein Roma-Camp in ParisBild: picture-alliance/dpa

Ängste und Vorurteile

Zwischen 15.000 und 20.000 Roma, vornehmlich aus Rumänien, Bulgarien und Kroatien, sind derzeit in Frankreich. Sie leben überwiegend in provisorisch errichteten Lagern und häufig unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Der Soziologe Olivier Peyroux hat sechs Jahre in Rumänien gelebt und ist heute von der Stadt Paris beauftragt, eine Bestandsaufnahme in den Roma-Lagern vorzunehmen: "Die Schwierigkeit besteht in den administrativen Hürden, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie können also nicht legal arbeiten", sagt Peyroux. "Das Resultat: Sie weichen aus auf Tätigkeiten in der Grauzone, auf Betteln, Zeitungen verkaufen oder Schrott sammeln."

Die Filmemacherin Mali Arun hat innerhalb von drei Jahren immer wieder in einem Roma-Lager in der Pariser Vorstadt Bobigny gelebt. Mit ihrer Kamera hat sie die Lebensweise der dort lebenden Familien beobachtet, immer darauf bedacht, nicht belehrend zu wirken und ihren Gastgebern nicht die eigenen moralischen Werte aufzudrängen. "Verstanden habe ich die Roma bis heute nicht”, gibt sie zu. "Sie sind alle sehr verschieden, manche sehen sich nicht einmal als Roma, andere verteidigen ihre Kultur." Die politische Instrumentalisierung dieser ethnischen Gemeinschaft ist für sie unerträglich. "Jetzt schauen alle nur auf den Prozess in Nancy und sagen sich 'Bitte schön! Die sind eben kriminell von Geburt an'." Mali hat die Frauen beim Betteln begleitet, saß selbst zwei Tage auf den Knien in einer Pariser Metro-Station. "Das erbettelte Geld reicht, um für die Familien Essen zu kaufen, manchmal sogar Fleisch. Viel kommt aber aus Mülltonnen. Sie machen sehr viel aus ganz wenig." Dass Kinder zum Betteln mitgenommen werden, hat sie genauso erlebt, wie Kinder, die auf die kommunale Grundschule gehen und am Abend nicht wissen, ob in aller Frühe ihr Wohnlager geräumt werden wird.

Prozessakten im Gerichtssaal von Nancy (Foto: dpa)
Den Roma wird in Nancy organisiertes Verbrechen vorgeworfenBild: picture-alliance/dpa

"Zurück wollen die meisten nicht"

Organisierte kriminelle Strukturen, wie sie den 27 Angeklagten in Nancy vorgeworfen werden, hat Mali hingegen in drei Jahren nie ausmachen können. Beim Stehlen ging es um 50 oder 100 Euro. "Lächerlich im Vergleich zu Raubüberfällen oder Drogenhandel", sagt sie. Sicherlich seien einige faul und zögen die Kleinkriminalität der regelmäßigen Arbeit vor. Für die 29-Jährige bleiben vor allem die Gastfreundschaft und die Menschlichkeit der Roma in Erinnerung. Sie hofft darauf, dass die Öffentlichkeit trotz des Prozesses bereit ist, nach Lösungen in der Roma-Frage zu suchen. Die ständigen Räumungen der mühsam zusammengebauten Hütten sei auf Dauer keine Lösung, denn zurück in ihre Heimat, wo sie ebensolchen Diskrimierungen ausgesetzt sind und mit 300 bis 400 Euro im Monat auskommen müssen, wollen die meisten nicht.

Demonstranten in Paris (Foto: AP)
2010 demonstrierten Menschen gegen die Roma-Politik des damaligen Präsidenten SarkozyBild: AP

Das französisches Webmagazin "slate.fr" sieht in der hitzigen Debatte um die Integrationsfähigkeit der Roma vor allem das Ringen Frankreichs mit sich selbst: "Die Angst vor dem Fremden, der so anders lebt, sitzt tief in einer Gesellschaft, die von der Krise verängstigt ist und schon unter der Kleinkriminalität und einer unzulänglichen Integration der Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund leidet."

Am Ende geht es also nicht nur um den Integrationswillen der Roma, sondern auch darum, ob ein Land, das sich stets auf die Verbreitung der universellen Menschenrechte bezieht, selbst mit Menschen rechtmäßig umgeht.