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Privatsphäre: Wie nah darf es sein?

Ananda Grade24. November 2012

Deutschland ist das Land der Individualisten. Oder anders gesagt: In Deutschland kann man ganz schön einsam sein. So empfinden zumindest viele Zugewanderte, die aus sogenannten "Kontaktkulturen" kommen.

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privat © Ssogras #39169560
Symbolbild - PrivatsphäreBild: Fotolia/Ssogras

"Ich brauche etwas Abstand" - diesen Satz muss sich die mexikanische Mutter Flor von ihrer Tochter Christina anhören, als sie nach einem Streit wieder auf sie zugehen möchte. Aber das kommt gar nicht in die Tüte. "Kein Abstand zwischen uns!", sagt Flor und zieht ihre Tochter zu sich. Diese Szene stammt aus der amerikanischen Filmkomödie "Spanglish" und ist typisch für Familien, die von einer Kultur in eine andere gewandert sind. Denn wie viel Nähe und wie viel Abstand innerhalb der Familie geduldet wird, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich.

In westlichen Kulturen ist die Privatsphäre eines Menschen Sitte und Recht. In Deutschland beispielweise gilt die Privatsphäre als der Bereich, in dem sich der Mensch frei und ungezwungen verhalten kann, ohne dass andere ihn beobachten oder abhören können. In den USA ist die Privatsphäre das "right to be let alone", also das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. Die Filmfigur Flor aber hält das für überflüssig. In Mexiko steht sich die Familie sehr nah, es gibt keinen "Abstand" zwischen Mutter und Tochter.

Kontaktkulturen versus Nicht-Kontaktkulturen

Dass Privatsphäre in jeder Kultur anders verstanden wird, lässt sich sogar messen: Der körperliche Abstand zwischen den Menschen ist hier entscheidend. Er gibt Auskunft über weitere Eigenschaften einer Kultur. So unterteilen Kulturwissenschaftler Länder einerseits in so genannte "Kontaktkulturen", in denen Menschen viel körperlichen Kontakt haben und die Gemeinschaft stark im Vordergrund steht, und in "Nicht-Kontaktkulturen", in denen man höflichen Abstand zueinander hält und die sehr viel individualistischer geprägt sind.

Zeichen Zutritt für Unbefugte verboten © vektorisiert #29598131 - Fotolia.com, Undatierte Aufnahme, Eingestellt 13.07.2011
In Deutschland hält man andere gerne auf DistanzBild: Fotolia/vektorisiert

Der niederländische Sozialpsychologie-Professor Geert Hofstede untersucht seit Jahrzehnten die Werte in Kulturen weltweit. Für ihn hängt das Verständnis von Privatsphäre vom Individualismus oder Kollektivismus einer Kultur ab. Doch nicht nur das: "Wie viel Privatsphäre man hat, hängt auch davon ab, wie viel Raum und somit Reichtum man hat. Wobei der Reichtum zuerst kommt, dann der Individualismus", so Hofstede.

Zu den Kontaktkulturen zählen die arabische Welt, Lateinamerika und Südeuropa. Hier gibt es viel Nähe und Körperkontakt zwischen den Menschen. In Nicht-Kontaktkulturen wie Nordeuropa wird der Körperkontakt auf das Notwendigste beschränkt. Hofstede nennt dies die "Komfort-Distanz". Das ist der Abstand, den Menschen halten, um sich wohlzufühlen.

Kulturunterschiede innerhalb der Familie

Den kulturellen Unterschied in Sachen Privatsphäre spüren vor allem die Hinzugezogenen. So auch der Iraner Eskandar Abadi: "Im Iran kann man sich schwer zurückziehen. Wir waren zwölf Kinder und teilten uns zwei Zimmer." In Deutschland habe hingegen alles seinen Platz und jeder sein eigenes Zimmer. Wenn Abadi an seine Zeit im Iran zurückdenkt, muss er schmunzeln: "Meine Mutter besuchte mich in meinem winzigen Studentenzimmer. Ich sagte, ich müsse lernen. Sie blieb ruhig sitzen. Dann unterbrach sie mich eine Minute später und fragte, ob ich vorankäme, ob ich Hilfe bräuchte."

Menschenmenge in China bei Nacht Photo by Guang Niu/Getty Images
Viele Menschen auf engem Raum in ChinaBild: Getty Images

Die Chinesin Lin Fu, die vor 13 Jahren nach Deutschland kam, sieht den Kulturunterschied bei ihrer sechsjährigen Tochter: "Sie hat ein Türschild gebastelt, darauf steht: 'Bitte klopfen'. Das hängt sie an ihre Zimmertür ", erzählt sie. In ihrer Kultur wäre das undenkbar, doch Fu findet das interessant. Das Türschild sei eine symbolische Geste, an der man den Kulturwechsel erkenne. Hofstede spricht hier vom Dreigenerationenprozess: "Die erste Generation hat in den ersten zehn Lebensjahren bestimmte Werte mitbekommen. Diese bleiben ein Leben lang. Deren Kinder, die zweite Generation, erleben zwei verschiedene Wertesysteme zu Hause und in der Schule. Sie fühlen sich dadurch manchmal verloren. Die dritte Generation ist völlig angepasst an die neue Kultur, auch wenn es in der Familie noch ein paar Traditionen gibt."

Privatsphäre unter Geschäftsleuten

Die Privatsphäre anderer Länder spiegelt sich auch im Berufsalltag wider - gerade, wenn es um internationale Meetings geht. Alexander Groth, von Beruf Professional Speaker, hat schon viele Konferenzen weltweit besucht und kann aus eigener Erfahrung sprechen: "Männer in Argentinien kommen einem unheimlich nah. Sie spüren den Atem des anderen im Gesicht und er stupst Sie andauernd an", erzählt Groth. Für einen Nordeuropäer ist das sehr unangenehm. In Indien rückte man ihm noch mehr zu Leibe: "Stellen Sie sich vor, ein indischer Kollege führt Sie zu einem Restaurant und hält dabei Händchen mit Ihnen. Da geraten Sie als Europäer völlig ins Schwitzen."

Indian Hindu vor einem Tempel Photo credit should read NARINDER NANU/AFP/Getty Images)
In Indien ist der private Raum besonders knappBild: AFP/Getty Images

In der Businesswelt ist das Thema interkulturelle Kommunikation und Privatsphäre sehr gefragt. Etliche Management-Autoren untersuchen zusammen mit Kulturforschern die Konventionen in einzelnen Ländern. Denn ob eine Beziehung, sei es privat oder beruflich, zwischen zwei Menschen mit verschiedener Herkunft glückt, hängt eben auch vom gegenseitigen Kulturverständnis ab. Alexander Groth hat das selbst erlebt. "Ein Deutscher und Argentinier im Gespräch: Der Argentinier rückt nah an den Deutschen heran. Der Deutsche geht einen Schritt zurück. Der Argentinier denkt sich: 'So wird das nix' und rückt wieder näher ran, der Deutsche geht wieder einen Schritt zurück. Bei einer Veranstaltung auf einer Terrasse geht das nicht lange gut", sagt Groth und lacht.