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Pädagogik auf Babystrich

Tobias Käufer11. März 2013

In Kolumbien fliehen Slum-Kinder vor ihren Problemen oft auf die Straße - und bekommen dort Hilfe. Der deutsche Theologie-Professor Hartwig Weber kümmert sich um Mädchen auf dem Babystrich in Medellin.

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Kinder auf dem Straßenstrich von Medellin (Foto: DW/Tobias Käufer)
Bild: DW/T.Käufer

Ein paar Quadratmeter nur ist der Raum groß, der Liliana Maria (14) zum Überleben bleibt. Umgerechnet fünf Euro Miete muss das junge Mädchen pro Tag für ihr Zimmer in einem Stundenhotel zahlen. Kann sie das nicht, droht ihr eine harte Nacht auf den Straßen der kolumbianischen Stadt Medellin. "Ich lebe auf der Straße, weil ich manchmal nicht genug Geld verdiene, um das Hotelzimmer zu bezahlen. Alle rauben dich aus. Sie bestehlen dich, wo es nur geht", klagt die junge Frau. Familiäre Probleme und häusliche Gewalt haben sie von zu Hause weglaufen und in die Prostitution abgleiten lassen. Nun steht sie mit anderen Kindern an der Metro-Bahn-Station Prado und wartet auf Kunden. Läuft der Tag gut, kann sie in ihrem Hotelzimmer schlafen. Läuft es schlecht, ruft die Straße.

Die Armut und der Drogenkrieg spülen jedes Jahr Tausende von Flüchtlingen in die Slums der kolumbianischen Stadt Medellin. Guerillagruppen, Paramilitärs und Großgrundbesitzer vertreiben die Menschen aus den ländlichen Gebieten Kolumbiens in die Armenviertel der Städte. Landbesitz bedeutet Macht in Kolumbien: Drogenanbau und illegaler Bergbau auf dem geraubten Land bescheren den neuen Besitzern hohe Gewinne.

Helfer der Straßenkinder: Theologie-Professor Hartwig Weber von der Universität Heidelberg (Foto: DW/Tobias Käufer)
Helfer der Straßenkinder: Theologie-Professor Hartwig Weber von der Universität HeidelbergBild: DW/T.Käufer

Besonders betroffen von den Folgen des Konfliktes sind junge Mädchen aus den Flüchtlingsfamilien. Die sozialen Probleme in den von Binnenflüchtlingen gefüllten Armenvierteln produzieren häusliche Gewalt und Übergriffe. Oft sehen die Kinder nur noch die Flucht auf die Straße als einzigen Ausweg. Hier erleben sie eine vermeintliche Freiheit, die viele letztlich in die Drogensucht und die Prostitution auf den Babystrich zwingt. Liliana Maria ist vor zwei Jahren wegen familiärer Probleme auf die Straße geflüchtet. Seit drei Monaten ist sie schwanger, das macht den täglichen Überlebenskampf nicht einfacher.

Lehrerinnen sammeln Kontakte

Deutsche und kolumbianische Pädagogikstudentinnen arbeiten in einem innovativen Forschungsvorhaben der Universität Heidelberg mit diesen Mädchen und treffen sich mit ihnen auf den öffentlichen Plätzen der Stadt – dort, wo sie arbeiten und leben. Getragen wird das Bildungsprojekt von katholischen Don-Bosco-Schwestern und dem deutschen Theologie-Professor Hartwig Weber von der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, der als einer der führenden Experten für Straßenkinder gilt. "Wir suchen hier mit den Studentinnen, die später einmal Lehrer werden, Kinder und Jugendliche auf, um die sich niemand kümmert", erzählt Weber. "Wir gehen davon aus, dass Studentinnen, die einmal auf der Straße waren und diese Situation kennen und mit dieser Situation umzugehen lernen, andere Lehrer werden, als solche, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben."

Ein Teil der an dem ungewöhnlichen Projekt beteiligten zukünftigen Lehrerinnen hat in Deutschland studiert. Für sie hat sich der Blickwinkel auf die Straßenkinder dank der praktischen Erfahrungen an den sozialen Brennpunkten geändert. Das Besondere dieses pädagogischen Konzepts ist der direkte Kontakt der angehenden Lehrerinnen mit den Straßenkindern, den sie im Rahmen ihrer normalen Ausbildung normalerweise nicht hätten. "Schule produziert auch Außenseiter, die dann auf der Straße landen. Wir wollen mit dem Projekt den Blick der Lehrerinnen für die Problematik schärfen."

Theologie-Professor Hartwig Weber von der Universität Heidelberg im Gespräch mit einer schwangeren Prostituierten (14). (Foto: DW/Tobias Käufer) Rechte. DW/Tobias Käufer
Verzweiflung und ZuspruchBild: DW/T.Käufer

Bildungsprogramme auf der Straße

Auf der Straße - irgendwo, immer da, wo sich die Kinder gerade aufhalten - bringen die Studentinnen mit speziellen Bildungsprogrammen und Spielformen die einzige Abwechslung in den tristen Alltag der Mädchen auf dem Babystrich. Die Kinder malen ihre Erlebnisse auf ein Blatt Papier. Das ist der Startschuss zu ersten offenen Gesprächen. Für viele der Kinder ist es die erste Möglichkeit, überhaupt über ihre Probleme zu sprechen. Für die Lehrer ein wertvoller Kontakt mit Kindern aus Schichten, mit denen sie normalerweise nichts zu tun haben. Die künftigen Lehrerinnen sehen ihre Erfahrungen als Horizonterweiterung, die sie für die Mädchen und deren Probleme sensibilisiert. Pädagogik-Studentin Sara Catano (21) von der Universität Antioquia in Medellin fordert mehr Aufmerksamkeit für die Kinder: "Für mich reicht es nicht aus, dass es Institutionen gibt, die sich dieser Kinder annehmen. Für mich ist die menschliche Qualität derjenigen wichtiger, die sich in den Institutionen um die Kinder kümmern." Zwar gibt es staatliche Programme, die sich um das Wohl der Straßenkinder kümmern. Doch reichen deren Angebot nach dem Dafürhalten der angehenden Lehrerinnen nicht aus. Daniela Correa (21), auch sie eine angehende Lehrkraft, geht noch einen Schritt weiter: „Eine Ausbildung für die Kinder reicht nicht aus, sie müssen auch eine Perspektive danach haben." Tatsächlich können einige wenige Straßenkinder zwar eine Berufsausbildung absolvieren. Einen Arbeitsplatz finden sie in der Regel aber dennoch nicht.

Kinder sind dankbar

Professor Weber ist angesichts der Lebensumstände der Kinder im Hinblick auf ihre Zukunft wenig optimistisch. "Viele der Kinder verschwinden irgendwann. Wenn sie nicht genug Umsatz als Prostituierte machen, werden sie von ihren Zuhältern und Dealern einfach umgebracht. Oder sie sterben an Krankheiten. Ihre Lebenserwartung ist nicht hoch. Wenn eine Projektphase abgeschlossen ist und wir nach ein paar Wochen wieder neu starten, sind viele Kinder einfach weg." Deshalb ist für ihn bereits die Anteilnahme der Studentinnen am Schicksal der Kinder ein positives Ergebnis: "Wir zählen als Erfolg unsere Präsenz und den Umstand, dass wir eine kleine Lebensspanne mit diesen Mädchen teilen. Es kommt uns darauf an, ihnen ein Gesprächsangebot zu liefern und ein Ansprechpartner für das zu sein, was sie bewegt." Manchmal ergibt sich aus den Kontakten mit den drogenabhängigen Mädchen ein Gesprächsfaden, der zu einer Brücke raus aus dem Elend werden kann. Straßenkind Liliana hat Vertrauen zu ihren Gesprächspartnern gefunden: „Sie gehen respektvoll mit uns um und sie unterrichten uns", freut sie sich über die Arbeit.

Auf dem Bild: Eine Don-Bosco-Schwester im Gespräch mit einem Straßenkind (Foto: DW/Tobias Käufer)
Eine Don-Bosco-Schwester im Gespräch mit einem StraßenkindBild: DW/T.Käufer