1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Nur die Konzerne zweifeln am Ausstieg 2022

30. Mai 2011

Die deutsche Industrie macht weiter Front gegen die Beschlüsse der Bundesregierung zum beschleunigten Atomausstieg 2022. Bei den Sozialdemokraten deutet sich Zustimmung ab, die Grünen zieren sich noch.

https://p.dw.com/p/11QTy
Bundeskanzlerin Merkel (M.)und die Vorsitzenden der Ethik Kommission Sichere Energieversorgung Matthias Kleiner (l.) und Klaus Töpfer (r.) (Foto: dapd)
Kanzlerin Merkel und die Präsidenten der EthikkommissionBild: dapd

Die Details wurden noch erläutert, da kam schon die eindeutige Ablehnung der deutschen Industrie: Unmittelbar nach dem nächtlichen Beschluss der Koalitionsspitzen in Berlin zum Atomausstieg bis spätestens 2022 preschte erneut der AKW-Betreiber RWE vor und drohte mit einer Klage. Man halte sich "alle rechtlichen Möglichkeiten offen", so ein Konzernsprecher am Montag (30.05.2011). Gegen das Atommoratorium von Bundeskanzlerin Angela Merkel geht der Energiekonzern bereits als einziger Branchenvertreter vor Gericht vor. Auch mit der nun von der Koalition noch einmal bestätigten Brennelementesteuer dürfte sich bald die Justiz beschäftigen.

RWE als Speerspitze des Widerstands?

Jürgen Großmann am Rednerpult (Foto: picture alliance/dpa)
RWE-Vorstandschef Großmann steht an der Spitze der RegierungskritikerBild: picture alliance / dpa

Von einer "Wutrede" des RWE-Chefs Jürgen Großmann hatten Korrespondenten jüngst berichtet, als er vor dem CDU-Wirtschaftsrat in Berlin eindringlich vor einem konkreten Ausstiegsdatum warnte. Deutschland stehe vor einer "Öko-Diktatur", einem "Blackout", der gigantische Verluste verursachen könne.

Insgesamt blieben die ersten Reaktionen der Kernkraftwerksbetreiber skeptisch bis zurückhaltend. "Blauäugig", "voreilig", "populistisch", hatte es bis zuletzt aus den Zentralen einer Reihe von Energieversorgern noch getönt. E.ON hatte sich insbesondere bei der Rücknahme der Laufzeitverlängerung eine Klage ausdrücklich offengehalten.

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Peter Keitel, befürchtet eine Schwächung der "Bundesrepublik als Industrieland". Die "deutlich erkennbare politische Absicht, in einem beispiellos beschleunigten Verfahren einen finalen und irreversiblen Schlusspunkt für die Nutzung von Kernenergie in diesem Land zu fixieren", mache ihm Sorgen, schrieb Keitel an die Spitzenvertreter der Wirtschaft.

Auch Daimler-Vorstandschef Dieter Zetsche beklagte, die Bundesregierung habe nach der Atomkatastrophe in Japan innerhalb weniger Tage und sehr emotional entschieden. Von einer guten Regierung wünsche er sich aber, dass sie bei einer so wichtigen Frage wie der Energieversorgung alle Aspekte sehr genau prüfe. Dabei müssten der Klimaschutz, die Sicherheit und die Kosten berücksichtigt werden, sagte Zetsche. "Die Abkehr von einer bezahlbaren Energieversorgung ist klar ein Risiko", so sein Resumé.

Von der Laufzeitverlängerung zum raschen Ausstieg

Luftaufnahme AKW Neckarwestheim 1 (Foto: dapd)
Neckarwestheim 1: Eines der sieben alten AKWs, die im Moratorium schon vom Netz gegangen warenBild: dapd

Nach nur sieben Monaten haben Union und Liberale ihre im Herbst 2010 beschlossene Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke wieder einkassiert. Der Koalitionsausschuss einigte sich darauf, die Kernkraftwerke in Deutschland bis spätestens 2022 abzuschalten, wie Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) in der Nacht zu Montag mitteilte.

Die sieben ältesten, derzeit abgeschalteten Kraftwerke und das Kernkraftwerk Krümmel sollen nicht wieder ans Netz gehen. Die Brennelementesteuer wird im Prinzip nicht angetastet. Röttgen nannte die Entscheidung "konsistent und konsequent." Das schwarz-gelbe Bündnis orientiere sich beim Atomausstieg an den Empfehlungen der Ethikkommission der Bundesregierung zur Zukunft der Energieversorgung.

Bis 2021 solle das Gros der Atomkraftwerke stillgelegt werden, erläuterte der Minister. Als "Sicherheitspuffer" könnten die modernsten Reaktoren genutzt werden und spätestens 2022 abgeschaltet werden. Damit - so rechnete Röttgen vor - ergebe sich eine durchschnittliche Laufzeit von 32 Jahren pro Kraftwerk gemessen an der Stromgewinnung. Das entspricht in etwa dem Ausstiegsbeschluss der früheren rot-grünen Bundesregierung, den die Koalition im vergangenen Jahr gekippt hatte. Damals habe Röttgen die Opposition noch als "energiepolitische Blindgänger" verspottet, merkten Kritiker genüsslich an.

Koalition will Bau neuer Kraftwerke und Speicher beschleunigen

Eines der sofort stillzulegenden AKWs soll bis 2013 als so genannte "Kaltreserve" für eventuelle Energieengpässe bereitstehen, um Stromausfälle zu verhindern. Welches Kraftwerk das sein wird, werde die Bundesnetzagentur entscheiden, sagte der FDP-Umweltpolitiker Michael Kauch. Auf keinen Fall wollte sich die Koalition in die peinliche Situation bringen, Atomstrom aus dem Ausland kaufen zu müssen.

CDU/CSU und FDP planen, den Bau neuer Kraftwerke und Speicher zu beschleunigen. Neben einem Gesetz zum beschleunigten Ausbau der Stromnetze solle es ein "Planungsbeschleunigungsgesetz" für Kraftwerke und Speicher geben, hieß es in Berlin. Ähnlich wie bei der Wiedervereinigung sollen Milliarden in die Infrastruktur gepumpt werden.

Zunächst einigte sich der Koalitionsausschuss darauf, die umstrittene Brennelementesteuer trotz Atomausstiegs beizubehalten. Mit der Steuer will der Bund 2,3 Milliarden Euro pro Jahr einnehmen. Bei einer dauerhaften Abschaltung der Mitte März stillgelegten sieben Kernkraftwerke und Krümmels würden sich die Einnahmen aber um eine Milliarde Euro jährlich verringern. Die FDP bewertete den Erhalt der Brennelementesteuer als ihren Erfolg. CSU-Chef Seehofer hatte die Steuer als Zugeständnis an die Industrie abschaffen wollen.

Opposition frühzeitig eingebunden

Sigmar Gabriel (l.) und Cem Özdemir (r.) zwischen glänzenden Limousinen (Foto: dapd)
Schon in der Nacht "eingeweiht": Die Parteichefs Gabriel und ÖzdemirBild: dapd

Noch während die Verhandlungen liefen, hatte die Kanzlerin in der Nacht eilig die Parteichefs von SPD und Grünen, Sigmar Gabriel und Cem Özdemir, einbestellt und über den Zwischenstand in Kenntnis gesetzt. Ihr ist offenbar an einem parteiübergreifenden Kompromiss sehr gelegen.

Gabriel lobte, die Koalition bewege sich auf einen Atomausstieg gemäß den Ratschlägen ihrer Ethikkommission zu. Allerdings tue sich das Regierungsbündnis außerordentlich schwer, den Ausstieg endgültig festzulegen. Ungeachtet dessen zeichnet sich laut Parteikreisen doch eine Zustimmung der Sozialdemokraten ab. Man sei schließlich nicht mehr weit vom rot-grünen Ausstiegsbeschluss entfernt, so verlautete in Berlin.

Grüne geben sich noch zögerlich

Die Grünen ließen ihre Haltung zu dem Regierungskonzept noch offen. Zunächst müsse alles auf den Tisch, so Grünen-Chefin Claudia Roth. Fraktionschef Jürgen Trittin kommentierte zwar mit Genugtuung, dass die Regierung eine "historische Fehlentscheidung" korrigiere. Er wiederholte aber seine Befürchtungen: "Die Hintertüren sind noch nicht zu."

Wie bei den Sozialdemokraten richten sich die Restbedenken vor allem gegen das Vorhalten mehrerer Atomkraftwerke als "kalte Reserve". Es sei wenig sinnvoll, dafür ausgerechnet Atomkraftwerke in Bereitschaft zu halten, hatte auch Gabriel moniert.

Die Präsentation des Abschlussberichts der Ethikkommission, auf den sich alle Parteien schon berufen hatten, geriet denn am Morgen wenig spektakulär. Alle müssten Interesse daran haben, dass der Strom der Zukunft sicherer, aber zugleich auch verlässlich und wirtschaftlich sei, wiederholte Merkel dabei ihren Appell für einen großen Konsens in Parteien und Gesellschaft. Der Co-Vorsitzende der Kommission, Klaus Töpfer, gab der CDU-Chefin gute Wünsche mit auf den Weg. Er hob als Erfolg hervor, dass man sich vor "Allgemeinplätzen" gehütet und "sehr konkret" geworden sei. Unverbindlich blieb der "Rat der Weisen" jedoch mit der Empfehlung, Alternativen für die Endlagerung des hoch radioaktiven Mülls zu suchen.

Autor: Siegfried Scheithauer (dapd, rtr, epd)
Redaktion: Julia Elvers-Guyot