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Zwischen Aufklären und Abhaken

Marcel Fürstenau19. Februar 2014

Anwälte der Opfer-Familien und Initiativen gegen Rechtsextremismus vermissen eine gesellschaftliche Debatte über Rassismus. Von Politik und Justiz haben sie mehr erwartet. Wichtige Fragen halten sie für unbeantwortet.

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Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung in Kassel für NSU-Opfer halten Schilder mit den Aufschriften "Nazis morden" und "Rassismus tötet" Foto: Uwe Zucchi (dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Den Ort für ihre Generalabrechnung haben sie mit Bedacht gewählt: Im "Haus der Demokratie und Menschenrechte" listen Sebastian Scharmer und Mehmet Daimagüler die Versäumnisse auf, die sie der Gesellschaft im Umgang mit Rechtsextremismus und Rassismus vorwerfen. Unterstützt werden die beiden Rechtsanwälte von Vertretern zivilgesellschaftlicher Organisationen. Gemeinsam teilen sie den Befund, Deutschland sei gut zwei Jahre nach dem Schock der NSU-Mordserie längst wieder zur Tagesordnung übergegangen. Auch der Zeitpunkt ihrer fundamentalen Kritik ist keinesfalls zufällig, denn an diesem Donnerstag (20.02.2014) nimmt sich der Bundestag erstmals in dieser Legislaturperiode öffentlich des Themas an.

Scharmer und Daimagüler setzen sich im NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht (OLG) für die Interessen von Opfer-Angehörigen ein. Ihre Mandanten, sagen sie, hätten auch gut neun Monate nach dem Beginn des aufsehenerregenden Verfahrens auf zentrale Fragen keine Antworten erhalten: Wer außer den fünf Angeklagten gehörte zum Netzwerk des Nationalsozialitischen Untergrunds? Wie wurden die zehn Opfer ausgewählt? Wie finanzierte sich der NSU, welche Verbindungen ins Ausland hatte er? Was wussten die Geheimdienste im Zeitraum 1998 bis 2011? Die Jahreszahlen markieren das Untertauchen der mutmaßlichen Mörder und das Auffliegen der rechtextremistischen Terrorgruppe.

Beschränkte Akteneinsicht - oder gar keine

Sebastian Scharmer, Rechtsanwalt im NSU-Prozess - Foto: Rainer Jensen (dpa)
Rechtsanwalt Scharmer: "Aufklärung sieht anders aus"Bild: picture-alliance/dpa

Alle Versuche, Licht ins Dunkel zu bringen, laufen aus Sicht der Anwälte zwangsläufig ins Leere. Scharmers Vorwurf hat es in sich: Der Generalbundesanwalt versuche mit allen Mitteln, die Aufklärung zu behindern und zu blockieren. Als Beleg führt er vor allem an, dass ihm und seinen Kollegen die Einsicht in Akten erschwert oder ganz verweigert werde. So dürften sie für das Verfahren gesperrte Akten zu einem zwielichtigen V-Mann des Verfassungsschutzes nur auf Antrag bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe lesen. Dabei sei es nicht gestattet, Kopien anzufertigen. Lediglich Notizen könnten sie sich machen.

"Aufklärung, Transparenz sieht anders aus", empört sich Scharmer. Zu dieser Einschätzung gelangt der Berliner Anwalt auch deshalb, weil ihm zu Ermittlungsverfahren gegen Rechtsextremisten aus dem NSU-Umfeld überhaupt keine Akten-Einsicht gewährt werde. Im Prozess vor dem OLG stoßen die Anwälte der Opfer-Familien an ihre Grenzen, wenn sie Fragen nach der politischen Einstellung von Zeugen aus der Umgebung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe stellen. Solche Fragen werden regelmäßig von der Staatsanwaltschaft beanstandet. Damit würden die "berechtigten Interessen" der Opfer-Angehörigen umgangen, meint Scharmer.

"Es wurde viel Hoffnung inszeniert"

So sieht es auch Anetta Kahane von der Antonio-Amadeu-Stiftung in Berlin. Die Vorsitzende der zivilbürgerlichen Initiative gegen Rassismus hat den NSU-Prozess von der Besucher-Tribüne aus beobachtet. Da werde "viel taktiert", ist ihr Eindruck. Das Aufklärungsversprechen der Bundeskanzlerin hält Kahane rückblickend mehr für eine Geste, als eine ernst gemeinte Ankündigung. Am 23. Februar 2012 sagte Angela Merkel auf der zentralen Gedenkfeier für die NSU-Opfer in Berlin: "Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen." Kahanes bitter klingender Kommentar zwei Jahre danach: "Es wurde sehr viel Hoffnung inszeniert."

Gedenkfeier für NSU-Opfer: Angela Merkel (M.) zwischen Angehörigen von NSU-Opfern und Repräsentanten des Staates. Foto: Michael Gottschalk
Gedenkfeier (2012): Merkel (M.) mit Angehörigen von NSU-Opfern und Repräsentanten des StaatesBild: dapd

Mit ihrer massiven Kritik an Politik und Justiz wollen die Anwälte der Opfer-Familien und Vertreter der Zivilgesellschaft erklärtermaßen die von ihnen vermisste Diskussion über Rassismus im Alltag und in deutschen Behörden entfachen. Dem Bundestag fordern sie auf, eine Enquête-Kommission einzurichten, in der Parlamentarier, Sachverständige und die interessierte Öffentlichkeit das Phänomen systematisch ergründen sollen. Diesen Gedanken hatten auch Abgeordnete, die bis zum Sommer vergangenen Jahres im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages engagiert waren. In ihrem weit über 1000 Seiten dicken Abschlussbericht attestierten sie dem Staat ein "Totalversagen".

"Das große Abhaken hat begonnen"

Doch inzwischen will im Bundestag niemand mehr etwas von einer Enquête-Kommission wissen. Stattdessen ist lediglich eine gut anderthalbstündige Debatte vorgesehen. Der Tagesordnungspunkt klingt unfreiwillig nach schlechtem Gewissen: "Bekräftigung der Empfehlungen des Abschlussberichts des NSU-Untersuchungsausschusses". Angesichts solcher Rhetorik wird sich Anwalt Scharmer bestätigt fühlen: "Wir bemerken, dass das große Abhaken begonnen hat."

Trotz aller Enttäuschungen können die Anwälte der Opfer-Angehörigen dem NSU-Prozess auch Positives abgewinnen. Wir haben heute ein besseres, sehr viel genaueres Bild von den Angeklagten", sagt Scharmers Kollege Daimagüler. Neben der Hauptangeklagten Zschäpe müssen sich vier Männer aus dem NSU-Umfeld verantworten, darunter der ehemalige hochrangige Funktionär der rechtsextremen NPD, Ralf Wohlleben.