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Neustart in Tripolis

Kersten Knipp15. Oktober 2012

Der Kongress hat Ali Seidan als Premierminister bestätigt. Jetzt muss er sein Kabinett durchs Parlament bringen. Aus den Fehlern seines Vorgängers dürfte er gelernt haben.

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Libyens neuer Regierungschef Ali Zeidan Foto: REUTERS/Mohammed Dabbous/Files
Bild: Reuters

Wege ins Amt sind in der Regel steinig. Besonders viel Geduld und noch mehr Geschick muss ausüben, wer in Libyen das Amt des Regierungschefs ausüben will. Der Kandidat muss zunächst sich selbst durchsetzen – und in einem zweiten Durchgang dann noch seine Regierungsmannschaft. Denn beide, Premier und Kabinett, sind in Libyen von der Zustimmung des Kongresses abhängig. Und wie selbstbewusst dieser seine Aufgabe ausübt, hat zuletzt Mustafa Abu Schagur erfahren. Hatte der soeben abgesetzte Premier sich als Ministerpräsident im September noch durchsetzen können, so scheiterte er bei der Vorstellung seiner Regierung gleich zweimal. Weder die erste, 27 Köpfe umfassende Mannschaft wollte der Kongress akzeptieren, noch die zweite, knapp halb so starke. Zu unbekannt seien die Kandidaten, zu wenig repräsentativ, zu sehr dem Kandidaten und zu wenig der Bevölkerung verbunden.

Der ehemalige Diplomat und Regimegegner Ali Seidan hat nun die Chance, es besser zu machen. Am Montag (15.10.2012) wurde er vom Kongress mit einer zwar nicht überwältigenden, aber doch hinreichenden Mehrheit zum neuen Premier gewählt. 93 von 200 Stimmen holte der Kandidat der säkularen "Allianz der Nationalen Kräfte" – acht mehr als sein größter Herausforderer Mohamed Al-Harary von den Muslimbrüdern.

Geradlinigkeit ist gefragt

Ali Seidan dürfte den Kongress ganz wesentlich auch durch persönliche Glaubwürdigkeit überzeugt haben:1980 sagte er sich im Amt des libyschen Botschafter von Gaddafi los. Seitdem lebte er im Exil und setzte sich von Genf aus für die Beobachtung der Menschenrechte in der alten Heimat ein. Damit punktete er bei den Libyern, von denen nicht wenige Vorbehalte gegen jene Politiker haben, die die Jahre von Gaddafis Regierungszeit im sicheren Exil verbrachten und sich dort weniger der Politik als vielmehr ihren Geschäften widmeten. Doch das Verlangen, von persönlich integren Personen regiert zu werden, bringt die libyschen Politiker zwangsläufig in Verlegenheit, erklärt der an der Universität Bonn lehrende Geograph und Ethnologe Andreas Dittmann. Denn unter der Regierung Gaddafi hätten sie nur zwei einander ausschließende Optionen gehabt: "Entweder waren sie im Lande, besetzten unter Gaddafi wichtige Posten und stehen darum heute im Verdacht, Opportunisten zu sein. Oder aber sie waren längere Zeit im Exil. Ein sowohl-als-auch gibt es nicht." Politiker, die in Libyen in einer strengen Opposition gewesen wären, seien heute tot.

Mitglieder des frisch konstituierten libyschen Nationalkongresses, 8.8. 2012 (Foto: Reuters)
Selbstbewusst: Der libysche NationalkongressBild: Reuters

Insofern, erklärt Dittmann, unterschieden sich die Politiker in ihrer Glaubwürdigkeit nicht grundsätzlich, sondern eher graduell von einander: Wer war wie lange und aus welchen Gründen im Ausland? Was haben sie dort getan? An diesen Fragen entscheide sich, wen die Libyer heute für glaubwürdig hielten.

Die Kunst der Repräsentanz

Zugleich muss Seidan seine Landsleute, repräsentiert durch den Kongress, durch etwas anderes überzeugen: nämlich seine Fähigkeit, eine Regierung zu bilden, die von möglichst allen Libyern als repräsentativ empfunden wird. Und das heißt: Die Kabinettsmitglieder müssen aus möglichst vielen Regionen des Landes kommen, die regionale und politische Vielfalt möglichst umfassend abbilden. Unter Gaddafi, erklärt Dittmann, hätten Aspekte regionaler Repräsentanz keine Rolle gespielt. Im Gegenteil: Er habe bestimmte Bevölkerungsgruppen ganz bewusst vernachlässigt oder sogar diskriminiert. "Und wenn man jetzt ein Gefühl einer libyschen Corporate Identity schaffen will, dann berücksichtigt man das stärker."

Nächtlicher Autocorso in Tripolis aus Anlass der Parlamentswahlen, 7.7. 2012. (Foto: REUTERS)
Die Freuden der Demokratie: Szene aus Tripolis während der ParlamentswahlenBild: Reuters

Eine neue politische Kultur

Dafür, erklärt der libysche Politikwissenschaftler Ali Algibeshi, müsse sein Land noch eine neue politische Kultur entwickeln. Die rauen Sitten unter Gaddafi hätten die Kunst geschmeidiger Verhandlungsfähigkeit verkümmern lassen. "Das Problem bislang war, dass keine Partei in der Lage oder willens war, einen Kompromiss einzugehen. Aber genau das braucht Libyen. Denn die Schwierigkeiten im Land sind immer noch groß. Das Land muss nun dringend die Sicherheitsprobleme lösen und das durch den Zerfall des alten Regimes entstandene Machtvakuum überwinden."

So komme es nun ganz erheblich darauf an, der Vielfalt des Landes und seiner Bürger Rechnung zu tragen. Wichtig für die Akzeptanz der neuen Regierung sei vor allem die Frage, erklärt Andreas Dittmann, "inwieweit es den Politikern gelingt, die verschiedenen Regionen, Bevölkerungsteile und ethnolinguistischen Gruppen im neuen Parlament so zu verankern, dass sie sich zumindest vertreten fühlen."

Frauen in Benghazi demonstrieren gegen die Macht der Milizen, Juni 2012. (Foto: DW)
"Das Heer, die Polizei, die Gerichte: die offiziellen Insitutionen des libyschen Staates" - Demonstration in BengasiBild: DW

Besonnener Umgang mit den Islamisten

Doch noch eine andere Aufgabe hat der neue Premier laut Dittmann vor sich: die starken islamistischen Strömungen des Landes zufriedenzustellen. Das komme einer Gratwanderung gleich. Einerseits könne man diese Gruppen nicht ausschließen. Andererseits dürfe man ihnen aber auch nicht zuviel Macht geben. Gleichzeitig gelte es zu verhindern, dass diese Gruppen unter Berufung auf religiöse Gründe auf Konfrontationskurs zur Regierung gingen. "Das ist die Kunst: dafür zu sorgen, dass sich alle einigermaßen repräsentiert fühlen und dass es zugleich keine starke islamistische Gegenströmung gibt. An der Fähigkeit, diese beiden Punkte zu verbinden, werden sich die künftigen Politiker messen lassen müssen.

Allerdings, erklärt Ali Algibeshi, könne die Regierung sich in diesem Punkt auf die Bevölkerung verlassen. Gewalt lehne sie zu größten Teilen ab. "Die Bürger wollen es nicht mehr hinnehmen, dass verschiedene Gruppen mit Waffengewalt ihre Interessen durchsetzen. Die Bürger wollen, dass sich Waffen ausschließlich in Händen von Polizei und Armee befinden. Es ist Aufgabe der Regierung, diesen Wunsch nun umzusetzen."

Nach 40 Jahren Diktatur soll um unterschiedliche Interessen nun mit Worten gekämpft werden. Ein fundamentaler Wandel der politischen Kultur, dem Ali Seidan den weiteren Weg in die Zukunft bahnen muss.