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"Neonazis brauchen keine Bomberjacken mehr"

Das Gespräch führte Mirja Annawald20. März 2006

Nach Angaben des Bundesverfassungsschutzes hat die deutsche Neonazi-Szene weiterhin regen Zulauf von Jugendlichen. Im Gespräch mit DW-WORLD erklärt der Ex-Neonazi Matthias Adrian, wie die Szene neue Anhänger gewinnt.

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Matthias Adrian vom Neonazi-Aussteigerprojekt EXITBild: picture-alliance/ ZB

DW-WORLD: Hat sich die rechte Szene in den vergangenen Jahren verändert?

Matthias Adrian: Es gibt einen Imagewandel, der ganz deutlich zu beobachten ist: Weg von der Skinhead-Subkultur hin zur "ganz normalen" Alltagskultur. In den 1990er Jahren, als Skinhead zum Pseudonym für rechtsextrem wurde, haben die Rechten die "national befreiten Zonen" in den neuen Bundesländern als "neu geschaffene Gebiete" angesehen. Diese mussten mit Gewalt kontrolliert werden, indem man andere Jugend-Subkulturen unterdrückte. Dafür brauchte man damals die starken Jungs mit der Bomberjacke.

Aber heute gibt es in weiten Teilen der neuen Bundesländer Strukturen, wie beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern, wo es diese "Gegner" nicht mehr gibt. Die Bomberjacken sind also überflüssig geworden. Heute wird ein neues Image verfolgt, hin zum netten Nazi von nebenan, der zwar rechtsextrem ist, aber beispielsweise alten Leuten über die Straße hilft.

In Mecklenburg-Vorpommern ist es schon ganz normal, entweder selbst eine rechtsextreme Einstellung zu haben, oder zumindest Rechtsextremismus als ganz normale politische Meinung anzusehen. In diesem Bereich hat auf jeden Fall einen Wandel stattgefunden, indem nämlich der Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit kaum mehr geächtet wird.

Konzentriert sich der Rechtsextremismus denn heutzutage immer noch überwiegend in den neuen Bundesländern?

Man muss leider sagen, dass diese Strukturen auch im Westen schon ganz deutlich zu erkennen sind. Zwar noch nicht in dem Maße, wie im Osten, aber gerade in Hessen, wo ich herstamme, etablieren sich mittlerweile im gesamten Rheintal neonazistische Gefüge. In den meisten der Winzerdörfern, die etwa fünf bis sieben Tausend Einwohner zählen, gibt es zwar nur zwei bis drei rechtsextreme Jugendliche. Wenn diese aber ein Weinfest in der Gegend besuchen, dann kommen da aus den verschiedenen Dörfern bis zu 80 gewaltbereite Jugendliche zusammen. Und dann hat man plötzlich eine rechtsextreme Szene inmitten eines Weinfestes. Das könnte dann für andere Jugendliche, die nicht dem rechtsradikalen Dresscode entsprechen, und eventuell noch ausländischer Herkunft sind, schwierig werden, durch den Mob zu gehen.

Die Dichte der entstandenen Kameradschaften nähert sich im Westen auf jeden Fall ganz horrend an die in den neuen Bundesländern an. Und wenn sich diese Strukturen noch weiter ausbreiten, dann könnte hier bald ein böser Flächenbrand entstehen.

Kann man also auch anhand der Entwicklung der rechtsradikalen Musikszene den Imagewandel der Rechtsextremen erklären?

Ja, zum Beispiel anhand der Geschichte der so genannten "Schulhof-CD". Die Idee dazu kam aus der Kameradschaftsszene, wo Musikgruppen, also eigentlich unorganisierte Strukturen, die aber alle der NPD nachlaufen, die CD herausbrachten. Die Songs waren aber dann derart offen nationalsozialistisch und Gewalt verherrlichend, dass die CDs beschlagnahmt wurden.

Dann brachte die NPD eine neue CD heraus, die nur strafrechtlich unbedenkliche Titel enthielt, von denen nur ein einziger, mit Ach und Krach, als jugendgefährdend eingestuft wurde. Dann gab es die zweite CD von der NPD, die dann aber strafrechtlich wasserdicht war. Es wurden nur zuvor bereits freigegebene Lieder veröffentlicht.

Trotzdem haben viele der Lehrer den Schülern die CDs weggenommen. Einer der Schüler hat den Lehrer wegen Diebstahls angezeigt, woraufhin der Lehrer verurteilt wurde. Da der Schüler JN-Mitglied war, stand ihm der ganze Apparat der Partei zur Verfügung, wo auch mehrere Juristen Mitglied sind. So hat ihn der Prozess keinen Pfennig gekostet.

Treten die rechtsradikalen Parteien der Gesellschaft heute also ganz anders gegenüber als noch vor ein paar Jahren?

Die rechte Szene versucht es heute auf dem legalen Kurs. Gerade wurde in Berlin wieder ein Musterprozess wegen des Demonstrationsrechtes der NPD geführt. Der Richter wies den Antrag zwar zurück, aber trotzdem plädiert die NPD weiterhin dafür, dass sie ihr Demonstrations- und Versammlungsrecht wahrnehmen darf. Die NPD ist inzwischen äußerst bemüht, sich an die Spielregeln zu halten. Man kann nur versuchen, zu verhindern, dass dieser Rahmen ausgeweitet wird. In dem Bereich kann noch einiges getan werden. Das wird allerdings nur dazu führen, dass sich die Rechtsextremen immer strikter an die Spielregeln halten werden. In einigen Jahren wird die Szene dann soweit sein, dass sie ihre "Projekte" immer erst wasserdicht macht. Auf juristischem Wege kann man dann dagegen kaum mehr etwas tun.

Matthias Adrian war von 1997 bis 2000 Mitglied bei der Jugendorganisation der NPD und organisierte in Hessen Neonazi-Aufmärsche. 2000 dann der Ausstieg aus der Szene und die Distanzierung von der rechtsextremen Ideologie. Heute engagiert er sich bei der Berliner Aussteigerinitiative EXIT gegen Rechtsextremismus.

EXIT-Deutschland ist eine von Ex-Kriminaloberrat Bernd Wagner und Ex-Naziführer Ingo Hasselbach mit Hilfe der Amadeu Antonio Stiftung und der Freudenberg Stiftung gegründete Initiative, die seit Sommer 2000 für Aussteiger aus der rechtsradikalen Szene Hilfe zur Selbsthilfe bietet.