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Najem: "Ich bin enttäuscht von Europa"

Oleksandra Indiukhova / Roman Goncharenko21. November 2014

Vor einem Jahr begann in der Ukraine die proeuropäische Maidan-Protestbewegung. Zu ihren Gründern gehört der Journalist Mustafa Najem. Im DW-Interview zieht er Bilanz - und kritisiert dabei Europa.

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Mustafa Najem, Journalist und Blogger aus der Ukraine (Foto: Anna Grabska)
Bild: Mustafa Najem

DW: Die ukrainische Regierung legte am 21. November 2013 überraschend das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union auf Eis. Sie haben noch am selben Tag zu einer spontanen Demonstration auf dem Maidan Nesaleschnosti (Unabhängigkeitsplatz) in Kiew aufgerufen. Das war der Beginn eines Massenprotests gegen die Regierung. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?

Mustafa Najem: Als die Regierung verkündete, dass sie auf dem Weg in die Europäische Union zurückrudert, gab es auf Facebook eine heftige Reaktion darauf. Ich und viele andere waren sicher, dass es ein Schachzug war. Wir hatten noch die Hoffnung, dass Präsident Viktor Janukowitsch das Abkommen doch noch unterzeichnen würde. Der symbolische Charakter lag darin, dass ebenfalls am 21. November im Jahr 2004 die Orange Revolution in der Ukraine begonnen hatte. Deshalb haben wir die Leute aufgerufen, sich auf dem Maidan zu treffen. Das war ein Protest, aber kein Aufruf zu einer Revolution. Mein Appell richtete sich an diejenigen, die auf Facebook aktiv sind, an meine Freunde und Kollegen. Die Politiker haben übrigens nicht geglaubt, dass überhaupt Leute kommen würden. Und sie kamen doch. Bereits um Mitternacht standen mehr als tausend Menschen auf dem Maidan.

Welche Bilanz würden Sie heute ziehen? Was ist gelungen und was nicht?

Die wichtigste - wenn auch eine kleine Errungenschaft - ist, dass wir endlich entschieden haben, welchen Weg wir gehen (Anm. d. Red.: Die Ukraine hat das Assoziierungsabkommen mit der EU in diesem Jahr unterschrieben). Die Ukraine wird sich nicht mehr in die andere Richtung bewegen. Über alles weitere zu sprechen, ist noch zu früh. Leider folgte auf die Maidan-Bewegung ein Krieg. Alles, was jetzt passiert, ist eher die Folge dieses Krieges. Ich denke, der Maidan hat viele Menschen mobilisiert, die etwas bewegen wollen. Sie sind jetzt in die Politik gegangen. Ich hoffe, dass sie erfolgreich sein werden und ich werde alles tun, damit wir die Energie nicht verlieren, die sich im vergangenen Jahr aufgebaut hat.

Die Maidan-Bewegung forderte einen Machtwechsel in der Ukraine und hat sich durchgesetzt. Doch Tausende von Menschen haben ihr Leben verloren und die Ukraine einen Teil ihres Territoriums - ist der Preis nicht zu hoch?

Natürlich, jedes verlorene Leben ist das alles nicht wert. Auf der anderen Seite ist es für mich heute offensichtlich, dass wir geopolitisch keinen anderen Weg hatten als diesen Kampf, dem Menschen zum Opfer gefallen sind. Wir konnten nicht weiter unter dem Einfluss Russlands und des Machtsystems stehen, zu dem uns Präsident Viktor Janukowitsch geführt hatte. Ja, ein Teil des ukrainischen Territoriums ist besetzt. Doch ich denke, das ist nicht von Dauer. Wenn es uns gelingt, hier ein attraktiveres Land aufzubauen, dann habe ich keine Zweifel, dass diese Gebiete wieder ukrainisch werden. Aus Rücksicht auf die verlorenen Menschenleben: Es wird kein Fest geben (Anm. d. Red: am Jahrestag des Beginns der Protestbewegung). Trauer und Schuld gegenüber denen, die starben, muss uns dauerhaft antreiben. Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis.

Haben Sie sich jemals vorgeworfen, Menschen faktisch zu einer Revolution bewegt zu haben?

Ich glaube nicht, dass ich das alleine tat. Es war die Entscheidung einer neuen Generation. Wir wollen nach Europa. Wir wollen, dass die Ukraine anders regiert wird. Am Anfang war es eine friedliche Protestaktion. Es war nicht unsere Schuld, dass später Menschen erschossen wurden. Wenn Präsident Janukowitsch das hätte verhindern wollen, wäre das alles nicht passiert. Die Schuld liegt nicht bei den Menschen, die friedlich auf die Straße gingen, um ihre Meinung zu äußern. Schließlich führte Janukowitsch drei Jahre die Ukraine offiziell Richtung Europa. Derjenige, der das im Alleingang geändert hatte, trägt eben die Schuld an den Geschehnissen.

Ansicht des Maidan-Platzes in Kiew mit protestierenden Menschen (Foto: Reuters)
Proteste auf dem Unabhängigkeitsplatz in KiewBild: Reuters

Die Ukraine möchte nach Europa, doch die EU verhält sich zurückhaltend. Sind Sie enttäuscht darüber, wie die EU auf die Ereignisse in der Ukraine reagiert?

Ich glaube, das größte Problem ist, dass die EU die Ukraine immer noch nicht als ihre Einflusssphäre betrachtet. Auch nachdem die Ukrainer mit dem Verlust von Menschenleben gezeigt haben, dass sie nach Europa wollen. Die EU glaubt immer noch nicht, dass sie die Ukraine physisch schützen sollte, nicht nur mit Worten und Sanktionen. Das mag sich radikal anhören, doch ich glaube, alle Erfolge der Ukraine in diesem Kampf sind nicht dank Europa erzielt worden, sondern weil Menschen in der Ostukraine ihr Leben opfern. In dieser Hinsicht bin ich enttäuscht von Europa.

Welche Hilfe erwarten Sie von Deutschland?

Ich möchte, dass Deutschland eines versteht: Es ist seine Pflicht, die Ukraine zu verteidigen. Denn die EU trägt eine Mitschuld an allem, was jetzt in der Ukraine und auch in Russland passiert. Denn Brüssel wusste, dass sowohl die ukrainische als auch die russische Elite ihr Geld in Europa aufbewahrt. Die EU ließ sich sehr viel Zeit mit Sanktionen, bevor Konten eingefroren wurden. Ich glaube, das hätte viel schneller erfolgen können. Ich hoffe, in einem entscheidenden Moment werden Deutschland und die EU doch den Mut haben, die Ereignisse in der Ukraine als einen wirklichen Krieg anzuerkennen. Ich hoffe, sie werden sich auf eine Seite schlagen und nicht versuchen - unter dem Deckmantel der Geopolitik oder der Diplomatie - die Augen davor zu verschließen, dass eine Seite die andere angreift.

Mustafa Najem ist ein ukrainischer Journalist, Blogger und Aktivist. Bei den Parlamentswahlen vom 26. Oktober kandidierte er auf der Liste des Blocks Petro Poroschenko und wurde zum Abgeordneten gewählt.