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Journalistin des Jahres: Golineh Atai

Anastassia Boutsko23. Februar 2015

Als sie nach Russland ging, träumte sie von Sibirien-Dokus und Ballett-Berichten. Und wurde Kriegsreporterin. Nun wurde die Ukraine-Korrespondentin der ARD als "Journalistin des Jahres" ausgezeichnet.

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Portrait Golineh Atai (Foto: WDR)
Bild: WDR/Herby Sachs

Die Arbeit im Moskauer ARD-Büro ist heutzutage eine Zumutung. Von einem halbwegs geregelten Berufsalltag können die Mitarbeiter des Studios in einer umfunktionierten Wohnung am Kutusowsky-Prospekt in Moskau nur träumen. Normalerweise sind von drei Korrespondenten zwei unterwegs – nach Minsk, Kiew oder in die Separatistengebiete um Luhansk und Donezk. Schon nach wenigen Minuten unseres Gesprächs mit Golineh Atai taucht Studioleiter Udo Lielischkies auf und bittet sie, für die nächste Schalte einzuspringen. Er müsse einen Beitrag für die Tagesschau vorbereiten. Und im Übrigen sei gleich Studiobesprechung. Die Zeit läuft.

Vom Feuer ins Feuer

Das Phänomen Golineh Atai hat Deutschland der iranischen Revolution zu verdanken. Mit fünf kam sie 1979 mit ihren persischen Eltern hierher und wuchs im beschaulichen Hoffenheim in Baden-Württemberg auf. Empfindet sich die Frau, die mittlerweile sechs Sprachen spricht, als Europäerin? Aber sicher! Sarrazin und Pegida hin oder her. Der Schleier des Unbekannten und ihre besondere Empathie für das Fremde zeichnet sie dennoch aus.

Nach dem Studium in Heidelberg und einem Volontariat beim SWR ging Golineh Atai mit knapp 30 Jahren als Fernseh-Reporterin in die weite und alles andere als friedliche Welt: in den Irak und nach Syrien, in den Libanon, nach Libyen und andere Länder der arabischen Welt. Für viele ist Golineh Atai vor allem "unsere Frau in Kairo", wo sie den gesellschaftlichen Umbruch von den Anfängen bis zur "Eiszeit im ägyptischen Frühling" scharfsinnig beobachtete. Vor genau zwei Jahren, im Februar 2013, ging sie dann als Korrespondentin ins ARD-Studio Moskau.

"Zu dem Zeitpunkt, als ich den Job hier begonnen habe, wusste ich nicht, dass ich bald über einen Krieg berichten werde", sagt Atai. All die Hoffnungen, die sie im Gepäck hatte, die "mit Reisen und großen Dokumentationen verbunden waren, zum Beispiel nach Sibirien, in den fernen Osten oder in den Kaukasus", mussten der Realität weichen. Sie würde so gerne "über schräge Geschichten und seltsame Menschen" berichten, über Kultur, Ballett und Oper. "All das kommt leider viel zu kurz. Wir sind hier zu Kriegsreportern geworden."

Deutschland Golineh Atai WDR Korrespondentin aus der Ukraine ARCHIV
TV-Reporterin Golineh Atai bei der Arbeit im Krisengebiet: Interview auf der KrimBild: WDR

"Mich interessieren die Menschen im Krieg"

Jeder, der Atais Ukraine-Berichte gesehen hat, weiß aber, dass die zierliche Frau mit einer erstaunlichen Furchtlosigkeit die Frontlinie zwischen der ukrainischen Armee und den Separatisten durchquert - und keine klassische Kriegsberichterstattung macht. "Ich bin nicht jemand, der sich gerne hinter einen Raketenwerfer stellt", sagt sie. "Der Bericht würde wahrscheinlich dadurch einen so genannten Kick bekommen, aber ich weiß nicht, was für einen Informationswert er dadurch hätte."

Stattdessen begleitet Golineh Atai eine junge Frau, die zu ihrem Liebsten an die Front fährt, in die Bunker. Dort, wo Menschen, die alles verloren haben, ausharren müssen, oder in eine Suppenküche in zerbombtem Perwomajsk oder eben zu einer Weihnachtsfeier für Kriegskinder in Donezk. "Mich interessiert die aktuelle politische Situation, sicherlich, mich interessieren die Feldkommandeure, aber in allererster Linie interessiert mich, was der Krieg mit dem Menschen macht", sagt Atai. Eine Schussweste gehört dennoch zu ihrer Ausstattung. Wie geht die junge Reporterin mit der Angst um? "Indem ich mich immer dazu anhalte, diese Angst auch zu spüren."

Golineh Atai an ihrem Arbeitsplatz im ARD-Studio Moskau(Foto: DW)
Intensive Recherche: Die Korrespondentin an ihrem Büro-Arbeitsplatz im ARD-Studio MoskauBild: DW/A. Boutsko

Bloß keine Informationskriegerin werden

Wenn man im Netz nach Golineh Atai recherchiert, findet man nicht nur Lobreden. In giftigen Kommentaren wird sie der Verlogenheit und Einseitigkeit bezichtigt. Jeder, der Golineh Atais Tätigkeit genau verfolgt und vor allem mit dem russischen Propagandamonstrum zu tun hat, weiß um die Ungerechtigkeit dieser Vorwürfe, die womöglich auch gezielt gesteuert werden. "Ich habe schon den Eindruck, dass von der Seite, die diesen Informationskrieg begonnen hat, geradezu eine eindeutige Forderung an uns ergeht, uns auch an diesem Konflikt mit Informationsmitteln zu beteiligen", sagt Golineh Atai. "Und ich sehe es als eine Gratwanderung, dieser Versuchung nicht nachzugeben". Einen kühlen Kopf bewahren und nüchtern bleiben: eine wirkliche Herausforderung für sie, als Mensch und als Journalistin.

"Lügenpresse"-Vorwürfe treffen sie dennoch tief: "Wenn ich mir die iranische Geschichte anschaue, dann kann ich dem so genannten 'Westen' und den Amerikanern sehr skeptisch gegenüber gesinnt sein, und das bin ich auch seit jeher gewesen. Auf der anderen Seite erkenne ich bei vielen Kritikern auch eine Art von Doppelmoral, und zwar, dass der Imperialismus oder das Sendungsbewusstsein eines Landes sehr bewusst wahrgenommen und deutlich kritisiert wird, dass aber das Wiedererstarken einer Reichsidee hier in Russland fast schon entschuldigt wird."

Ausgezeichnete Reportagen

"Du, lass dich nicht verhärten / In dieser harten Zeit" - mit diesen Zeilen aus Wolf Biermanns "Ermutigung" übertitelt sie ihren Twitter-Account. "Dieses Lied ist mir und auch meinen Eltern sehr nahegegangen, als sie es zum ersten Mal im deutschen Parlament gehört haben. Ich fand, es ist ein sehr gutes Motto". Momentan ist aber vor allem eins wichtig: "Einfach Frieden für die Menschen, dass sie die Bunker verlassen können, dass sie ein menschenwürdiges Leben führen können. Egal, unter welcher politischen Führung."

Nun müsse sie wirklich los, der Tag wird lang. Ihre Entspannung? "Auf dem Weg zur Arbeit gehe ich durch die Unterführung, und da spielen fast immer ausgezeichnete Musiker. Ich gehe in mich und höre zwei Minuten zu – das ist meine Morgenmeditation."

Die Journalistin Golineh Atai freut sich am 23.02.2015 in Berlin über die Auszeichnung zur Journalistin des Jahres. (Foto: Stephanie Pilick/dpa)
Freude über die Auszeichnung zur Journalistin des Jahres bei der PreisverleihungBild: picture-alliance/dpa/Stephanie Pilick

"Journalisten des Jahres" werden von einer rund 80-köpfigen Jury der Branchenzeitschrift "Medium Magazin" gewählt. In der Begründung der Jury für ihre Auszeichnung heißt es: "Golineh Atai hat es geschafft, in der seit über einem Jahr andauernden Debatte über die Ukraine-Krise eine herausragende Berichterstattung zu bieten. Der Russland-Korrespondentin der ARD gelingt es, keine vorgefertigte Meinung zu reproduzieren. Sie bleibt immer genau, erklärt sich, wenn sie etwas nicht beantworten kann, zeigt außergewöhnliches Einfühlungsvermögen im Umgang mit ihren Interviewpartnern. Sie ist fair und präzise, stellt sich der Kritik, ist souverän im Umgang mit Hassbloggern und Meinungsagenten."

Die Preisverleihung hat am 23. Februar 2014 im Deutschen Historischen Museum in Berlin stattgefunden.