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Karriere als Kriegsinvalide

Klaus Gehrke 18. August 2014

In den Gefechten des Ersten Weltkrieges ließen viele Musiker ihr Leben; andere kehrten als Invaliden heim und konnten kein Instrument mehr spielen. Doch einige schafften es, ihre Karriere trotz Handicap fortzusetzen.

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Erster Weltkrieg Musizieren im Krankenhaus London
Bild: Getty Images

Sicherlich dürfte es so manchen Organisten geschmerzt haben, wenn die metallenen Prospektpfeifen seines Instruments zum Einschmelzen für Kanonenkugeln abgeholt wurden. Doch zu Kriegsbeginn war man gerne zu Opfern für den Sieg des Vaterlandes bereit - viele Musiker hatten sich eh schon voller Enthusiasmus freiwillig für den Einsatz an der Front gemeldet.

Kriegsdienst statt Karriere

Sämtliche am Krieg beteiligten Regierungen waren darauf bedacht, weitab der Front so weit wie möglich ein normales gesellschaftliches und kulturelles Leben aufrecht zu erhalten; doch infolge von Freiwilligenmeldungen und Einberufungen kam es im Orchesterbereich bald zu Engpässen. Das Gefühl, bei einem epochalen Ereignis dabei sein zu können, zog Komponisten, Musiker und gefeierte Solisten gleichermaßen an. Aus Pflichtverbundenheit gegenüber ihrer Heimat waren sie alle bereit, ihre Karriere zurückzustellen und stattdessen die Waffe in die Hand zu nehmen.

So schrieb beispielsweise der österreichische Komponist Arnold Schönberg: "Ich war stolz, zu den Waffen gerufen zu werden, und als Soldat tat ich alle meine Pflichten als begeisterter Anhänger des Hauses Habsburg, seiner 800-jährigen Weisheit in der Kunst des Regierens. Ich bin kein Pazifist. Gegen den Krieg sein ist so aussichtslos wie gegen den Tod sein. Beides ist unvermeidlich und gehört zu den Methoden der Erneuerung des Menschengeschlechts."

Arnold Schönberg beim Dirigieren des Rundfunk Sinfonie Orchesters Berlin
Arnold Schönberg machte nach dem Krieg eine steile KarriereBild: picture-alliance/dpa

Nicht alle teilten diesen Fatalismus, aber fast alle die anfängliche Begeisterung. Während Schönberg den Krieg körperlich unversehrt überstand, kostete er den Pianisten Paul Wittgenstein fast die Karriere.

Werke für die linke Hand

1887 in Wien geboren, hatte der junge Wittgenstein unter anderem bei dem damals berühmten Klaviervirtuosen Theodor Leschetizky studiert und verkehrte mit den berühmten Namen seiner Zeit: Richard Strauss, Gustav Mahler, Pablo Casals; mit dem angesagten Rosé-Streichquartett spielte er sogar Kammermusik. 1913 gab er in seiner Heimatstadt sein Debüt am Klavier: Die Kritiker feierten ihn als bemerkenswertes pianistisches Talent, das Anlass zu großen Hoffnungen gab.

Pianist Paul Wittgenstein
Wittgenstein brillierte am Klavier - trotz seiner BehinderungBild: CC-BY BFMI -3.0

1915 wurden diese Hoffnungen fast zunichte gemacht. Bei einem Feuergefecht wurde Wittgenstein an der Front so schwer verletzt, dass sein rechter Arm amputiert werden musste. Doch er gab seinen Traum von einer Musikerkarriere nicht auf; nach Kriegsende begann er mit dem Studium von Klavierwerken für die linke Hand. Darüber hinaus arrangierte er Stücke des klassisch-romantischen Repertoires und gab neue Werke in Auftrag. Unter anderem komponierten Paul Hindemith, Erich Wolfgang Korngold, Franz Schmidt, Richard Strauss, Maurice Ravel und Sergej Prokofjew auf Wittgenstein zugeschnittene Klavierstücke.

Erzwungener Instrumentenwechsel

Wie Wittgenstein war auch Otakar Hollmann, Jahrgang 1894, gebürtiger Wiener. Die aus Böhmen stammenden Eltern erkannten früh das musikalische Talent ihres Sohnes und förderten seine Ausbildung als Geiger. Bis er zum Kriegsdienst einberufen wurde, studierte Hollmann in Wien Musik und hatte bereits mehrere Stücke komponiert. Während seines Fronteinsatzes erlitt er eine schwere Verletzung der rechten Hand, die kurz danach amputiert werden musste. Das bedeutete das Ende seiner Geigerkarriere.

Möglicherweise erfuhr Hollmann, der ab 1919 in der neu gegründeten Tschechoslowakei lebte, von dem Schicksal Wittgensteins. Wie dieser konzentrierte er sich nun auf das Klavierspiel mit der linken Hand, studierte Klavier am Konservatorium in Prag und debütierte dort 1927 als Pianist. Hollmann erweiterte das Repertoire für die linke Hand ebenfalls durch Arrangements und eigene Kompositionen; darüber hinaus beauftragte er vor allem tschechische Komponisten wie Leoš Janáček, Bohuslav Martinů, Josef Bohuslav Foerster und Erich Schulhoff mit neuen Werken.

Gezeichnete Lebenswege

Sowohl Otakar Hollmann als auch Paul Wittgenstein erarbeiteten sich trotz ihrer Kriegsverletzungen als einarmige Pianisten großes Renommee und gaben ab den 1920er Jahren Konzerte in ganz Europa. Beide unterrichteten zudem als angesehene Dozenten Klavier an den Konservatorien in Wien und Prag. Durch die kriegsbedingte Änderung ihrer musikalischen Laufbahn kamen sie mit damals kaum beachteten und fast vergessenen Klavierwerken Franz Liszts in Berührung: Denn dieser hatte für seinen ungarischen Freund Géza Graf Zichy, der durch einen Jagdunfall seine rechte Hand verloren hatte, mehrere Stücke komponiert. Hollmann und Wittgenstein erweiterten dieses Repertoire durch Auftragswerke und Arrangements erheblich – und demonstrierten damit eindrucksvoll, dass eine Musikerkarriere in neuen Bahnen weiterlaufen konnte. Die für sie geschriebenen Stücke wie Ravels und Prokofjews "Konzerte für die linke Hand" haben längst Eingang ins Standardrepertoire der "zweiarmigen" Pianisten gefunden.

Geza Graf Zichy
Der ungarische Géza Graf Zichy war der erste, für den einhändige Werke komponiert wurdenBild: picture-alliance/dpa