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Gaddafis vergiftetes Erbe

Anne Allmeling21. Oktober 2012

Vier Jahrzehnte lang hat Muammar al-Gaddafi das öffentliche Leben in Libyen geprägt und bestimmt. Ein Jahr nach seinem gewaltsamen Tod kämpft das Land mit dem Aufbau eines neuen Staates.

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Libysche Rebellen betrachten ein zerstörtes Auto in Misrata (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Er gab sich als Freund der Franzosen, empfing den ein oder anderen Staatschef und schien in den letzten Jahren seiner Herrschaft fast ein wenig milde zu werden. Doch Freunde oder Verbündete hatte der selbst ernannte libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi schon lange nicht mehr. Schließlich hatte er sich unberechenbar gezeigt, verschiedene Terrorgruppen unterstützt, mal die arabische, dann die afrikanische Einheit angestrebt - und ging schließlich brutal gegen die eigene Bevölkerung vor. So gab es im UN-Sicherheitsrat keine einzige Gegenstimme, als im Frühjahr 2011 der NATO-Einsatz gegen den libyschen Diktator beschlossen wurde. Er bedeutete das Ende der Ära Gaddafi - aber die negativen Konsequenzen seiner Gewaltherrschaft sind immer noch spürbar.

Verbotene Parteien, unterdrückte Opposition

Kein Wunder: Vier Jahrzehnte lang hatte der Sohn einer Beduinenfamilie die Politik Libyens bestimmt - erst als Staatsoberhaupt, seit 1979 als selbst ernannter Revolutionsführer. Unabhängig davon, wer gerade Staatschef oder Ministerpräsident war: Die gesamte Macht lag faktisch in Gaddafis Hand. Parteien waren nicht erlaubt, die Opposition wurde unterdrückt. Aus Angst vor starken Gegnern vernachlässigte Gaddafi systematisch die Infrastruktur seines Landes. Konkurrierende Machtzentren sollten gar nicht erst entstehen, selbst die Armee war praktisch handlungsunfähig.

Gaddafi empfängt Nicolas Sarkorzy in Tripolis (Foto: AP)
Gaddafi empfängt Nicolas Sarkorzy in TripolisBild: AP

Jetzt müssen die Libyer vollkommen neue politische Strukturen und Institutionen schaffen. "Es ist eine außerordentlich große Herausforderung, die gesamte staatliche Verwaltung, die Sicherheitskräfte und die Armee neu aufzubauen", sagt Günter Meyer, Professor für Wirtschaftsgeographie und Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt.

Streit um die Neuordnung des Landes

Die Neuordnung des Landes hat in den vergangenen Monaten zu Streit und heftigen Debatten geführt, denn Libyens Bevölkerungsgruppen verfolgen unterschiedliche Interessen. Das hat auch historische Gründe: Bevor sich Gaddafi 1969 an die Macht putschte, hatten die drei Regionen Cyrenaika, Fessan und Tripolis eine separate Identität. Unter Libyens erstem Herrscher, König Idris, hatte das Land bis 1963 eine föderale Verfassung. Vorher waren die drei Regionen italienische Kolonie – und davor nie eine Einheit. Auch heute noch ist vielen Libyern die Verbundenheit mit ihrer Stadt und ihrem Stamm wichtiger als ein einheitlicher Staat.

Libyer feiern die Vertreibung radikalislamischer Islamisten (Foto: AP)
Libyer feiern die Vertreibung radikalislamischer IslamistenBild: AP

Das liegt auch daran, dass viele Libyer mit einer zentralen Herrschaft schlechte Erfahrungen gemacht haben. Denn Gaddafi kontrollierte auch die Erdölindustrie und damit die gesamte Wirtschaft des Landes. Von den Einnahmen aus der Erdölförderung profitierten unter seiner Herrschaft vor allem die Hauptstadt Tripolis und seine Heimatregion Sirte. Die Region Cyrenaika im Osten mit der Metropole Bengasi wurde dagegen stark vernachlässigt. Es war kein Zufall, dass hier im Februar 2011 die Revolution ausbrach und Bengasi bis zum Fall von Tripolis als Hauptstadt für die Revolutionsregierung fungierte.

Mächtige Milizen

Inzwischen gibt es gerade in der ölreichen Cyrenaika eine starke Autonomiebewegung. Die Zentralregierung verfügt noch immer nicht über eine handlungsfähige militärische Führung. Sie ist auf zahlreiche regionale Milizen angewiesen, die auf tribalen - also durch den Stamm definierte - oder lokalen Gruppierungen basieren. Diese Milizen bekämpfen sich aber auch gegenseitig - ein gravierendes Sicherheitsproblem für das Land. Gleichzeitig halten ehemalige Gaddafi-Hochburgen wie Sirte oder Bani Walid immer noch Distanz zum neuen Libyen. "Der Nationalrat, der damit beauftragt ist, eine Regierung zu bilden, konnte bislang nicht dafür sorgen, dass Ruhe im Land herrscht", sagt Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. "Bewaffnete Milizen und Verbrecherbanden nutzen das Machtvakuum, um ihre Forderungen durchzusetzen oder ihre Gebiete abzustecken." 

Von Islamisten zerstörtes Mausoleum in Libyen (Foto: AFP)
Von Islamisten zerstörtes Mausoleum in LibyenBild: Mahmud Turkia/AFP/GettyImages

Auch die radikalen Islamisten versuchen von der unsicheren Lage im Land zu profitieren. Der fundamentalistische Islam ist bei den gläubigen Libyern allerdings eher unbeliebt. Die Zerstörung islamischer Heiligtümer durch Salafisten hat der Popularität der radikalen Islamisten stark geschadet. Auch mit ihrem Hass auf den Westen können die Islamisten kaum Anhänger gewinnen. Das zeigte sich gerade nach dem 11. September 2012, als eine Terrorgruppe in Bengasi vier Amerikaner, darunter den US-Botschafter, ermordete. Als Reaktion gingen zehntausende Libyer auf die Straße und warfen zwei besonders militante und bis dahin einflussreiche radikalislamische Milizen aus der Stadt.

Mangelnde Aufarbeitung der Vergangenheit

Die Milizen unter Kontrolle zu bringen und die begangenen Verbrechen vor und während der Revolutionsphase aufzuarbeiten - davon ist Libyen noch weit entfernt. Der Entwicklung des Landes stehe genau das im Wege, meint Wenzel Michalski von Human Rights Watch. Einem Bericht der Organisation zufolge waren es nicht nur Gaddafis Kämpfer, die Kriegsverbrechen verübt haben. Auch die Milizen, die entscheidend zum Sieg gegen Gaddafi beigetragen haben, sind brutal gegen seine Schergen vorgegangen und haben massenweise Soldaten massakriert. Ein Jahr nach Gaddafis Tod haben die libyschen Behörden allerdings noch nicht einmal damit begonnen, gegen die Verantwortlichen von Kriegsverbrechen und anderen Völkerrechtsverletzungen auf beiden Seiten zu ermitteln. "Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, damit das, was die Revolutionäre gefordert haben, verwirklicht werden kann", sagt Wenzel Michalski, "nämlich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit."