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Morphium statt Medizin

Frank Sieren 27. September 2014

Mit der Verurteilung des Oppositionellen Ilham Tohtis zu lebenslanger Haft werden sich die Konflikte in Chinas Unruheprovinz Xinjiang eher verschärfen, meint DW-Kolumnist Frank Sieren.

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Ilham Tohti (Foto: AP)
Bild: picture-allianceAP Photo/Andy Wong

Es ist eine falsche Entscheidung zur falschen Zeit, die die chinesische Justiz in dieser Woche getroffen hat: Die Verurteilung des Universitätsdozenten Ilham Tohti, der sich für die Rechte der muslimisch-uigurischen Minderheiten in Chinas Problemprovinz Xinjiang stark gemacht hat – aber eben ausdrücklich nicht für die Unabhängigkeit der Region. Er betrieb die Internetseite "Uighur Online", auf der er seine uigurischen Landsleute zu Gewalt aufgerufen haben soll, so einer der Anklagepunkte. Belege dafür gibt es nicht. Der Akademiker hatte zuletzt in Peking an der Minzu Universität gelehrt und soll zudem auch separatistische Gruppen organisiert und angeführt haben, so die Klageschrift.

Als "Beweis" dienten Schriften, die Tohti auf seiner Webseite veröffentlicht hatte, und Lehrmaterial, mit dem er laut der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua junge Studenten "behext und gezwungen" haben soll, für "Uighur Online" zu arbeiten. Er habe "ein kriminelles Syndikat gebaut". Neben Tohti wurden noch sieben Studenten inhaftiert, die zu seiner "separatistischen Gruppe" gehören sollen. Innerhalb von nur zwei Tagen verurteilte das höchste Gericht in Ürümqi Tohti zu lebenslanger Haft. Abgesehen davon, dass der Prozess selbst für chinesische Verhältnisse intransparent war, macht dieser Fall auch nochmal deutlich, dass China von einem beständigen und flächendeckenden Rechtsstaat noch weit entfernt ist.

Radikalisierung zu befürchten

Die möglichen Folgen dieser Entscheidung, von der wir nicht wissen, in welchem Maß sie von Peking diktiert wurde, darf man nicht unterschätzen. Das Urteil wird liberale Uiguren in den Untergrund treiben und radikalisieren. Auf diese Weise wird sich der Konflikt im Westen des Landes nicht entspannen. Der Umgang mit dem 44-Jährigen ist ein weiterer Beleg dafür, dass die kommunistische Partei in Xinjiang offensichtlich die Strategie fährt, um jeden Preis abzuschrecken – auch, wenn sich dadurch der Druck im Kessel noch erhöht. Jede Art von Plattform, jede Art von Identifikationsfigur für die Uiguren soll gar nicht erst entstehen. Das ist die Lektion, die die Hardliner in der chinesischen Regierung vom Erfolg des Dalai Lama in Tibet gelernt haben wollen. Doch sie handeln wie ein Arzt, der Morphium spritzt, und sich dann der Illusion hingibt, der Patient sei geheilt.

Mehr denn je fühlen sich die Uiguren von Peking benachteiligt und fürchten, dass ihre Kultur zunehmend von den Han-Chinesen erstickt wird, die aus dem Osten zuziehen. Es ist schwierig einzuschätzen, wie viele der Uiguren sich heimlich mit den Terroristen solidarisieren, die mit immer mehr Anschlägen die Regierung in Peking zum Einlenken zwingen wollen. Seit dem Aufstand 2009 haben sich die Fronten verhärtet. Die Autobombe, die im Oktober 2013 am Platz des Himmlischen Friedens mit zwei Insassen explodierte, ordnet Peking den Uiguren zu. Blutige Attacken werden nicht mehr nur gegen chinesische Institutionen gerichtet, sondern auch immer unberechenbarer. Wie die Attacken auf einem Bahnhof in Kunming oder auf einem Markt in Ürümqi in den vergangenen Monaten zeigen.

Potentielles Einfallstor für internationale Terroristen

Peking stellt sich darauf ein, dass die Anschläge häufiger und "professioneller" werden. Denn die Region, die sich eine Grenze mit Pakistan und Afghanistan teilt, wird gerade zu einem potentiellen Einfallstor des internationalen Terrors. Erst kürzlich hat die Terror-Organisation IS erklärt, dass man China als einen der größten Feinde des Islam betrachte. Peking sollte alles tun, damit die Zahl der Unterstützer der IS und anderer ausländischer Terrorgruppen in Xinjiang so klein wie möglich bleibt. Doch vieles, was in den vergangenen Monaten passiert ist, erscheint geradezu kontraproduktiv zu diesem Ziel. Die Bevölkerung in Xinjiang wurde aufgerufen, Nachbarn mit verdächtig langen Bärten den Behörden zu melden. Und muslimischen Beamten war während des Ramadan das Fasten verboten worden.

Kein Wunder, dass Tohti bei den Aktivisten nun als uigurischer Nelson Mandela gilt. Mandela saß 27 Jahren im Gefängnis bis das Apartheidregime 1994 fiel, und er Präsident wurde. Allerdings macht die Partei nicht nur Fehler: Hoffnung macht ein neues Projekt, bei dem Han-Chinesen und Uiguren finanziell unterstützt werden sollen, wenn sie sich gemeinsam ein Haus teilen. Das gleiche gilt für Eheschließungen. Das sind Maßnahmen, die tatsächlich das Verständnis füreinander stärken. Es sei denn, die WG- oder Ehepartner zerstreiten sich über die Verurteilung Tohtis.

DW-Kolumnist Frank Sieren lebt seit 20 Jahren in Peking.