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Mittelschicht auf Pump

José Ospina-Valencia/Violeta Campos4. Februar 2013

Die wirtschaftliche Situation Kolumbiens hat sich in den vergangenen 20 Jahren verbessert. Doch die neue Mittelschicht profitiert davon nur bedingt. Ihre soziale und wirtschaftliche Lage ist instabil.

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Blick auf das Zentrum von Medellín, der zweitgrößten Stadt Kolumbiens (Fotos: DW/ J. Ospina-Valencia)
Bild: DW/J.Ospina-Valencia

Kolumbiens Mittelschicht wächst. Der Weltbank zufolge stieg der Anteil der Bevölkerung, der in diesem südamerikanischen Land zur Mittelschicht zählt, innerhalb der letzten zehn Jahre von 15 auf 28 Prozent.

Eine Studie zum Thema "Soziale Mobilität in Kolumbien" unter der Federführung von Alejandro Gaviria, dem ehemaligen Dekan der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Anden-Universität in Bogotá, kommt zu dem Ergebnis, dass ungefähr zwei Millionen kolumbianische Haushalte im vergangenen Jahrzehnt in die Mittelschicht aufgestiegen sind und diese sich somit verdoppelt hat.

Im vergangenen Jahr wuchs die kolumbianische Wirtschaft um knapp sechs Prozent und für 2013 wird ein Wachstum von fünf Prozent prognostiziert. Damit liegt das Land auf Rang drei im lateinamerikanischen Vergleich. Diesen Berechnungen zufolge gibt es in Kolumbien fast 14 Millionen Bürger, die der Mittelschicht angehören, nahezu 17 Millionen Arme und 1,4 Millionen Reiche.

Eine Frage der Definition?

Die Definition von "Mittelschicht" orientiert sich in der Regel an den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen eines Landes. Die bereits erwähnte Studie über soziale Mobilität ordnet Personen mit einem monatlichen Einkommen von bis zu 5500 US-Dollar der neuen kolumbianischen Mittelschicht zu.

Blick auf das Stadtzentrum von Medellín (Foto: AFP)
In den Städten haben viele Landflüchtlinge auf dem Bau Arbeit gefundenBild: RAUL ARBOLEDA/AFP/Getty Images

Die Einkommensparameter der Weltbank, die die Mittelschicht bestimmen, schließen jedoch auch Haushalte mit einem viel geringeren Einkommen ein, das zwischen zehn und fünfzig US-Dollar pro Kopf und Tag liegt. Dazu gehören dann auch Angestellte, die monatlich zwischen 300 und 1500 US-Dollar verdienen. Wenn man berücksichtigt, dass der Mindestlohn in Kolumbien für 2013 auf monatlich 380 US-Dollar festgelegt wurde, wird deutlich, wie groß die soziale Kluft selbst innerhalb der Mittelschicht ist. Dabei darf nicht vergessen werden, dass durchschnittlich vier Personen von diesem Mindestlohn leben.

Angesichts einer so großen Zerbrechlichkeit reden manche in Kolumbien lieber nur von Armen und Reichen, da der Wohlstand der Mittelschicht überwiegend kreditfinanziert ist. "Auch wenn das Einkommen gestiegen ist, wurde der reale Lebensunterhalt durch die Kreditausweitung gestärkt, vor allem durch Konsumkredite, deren Volumen in den letzten Jahren um mehr als ein Drittel gewachsen ist", erklärt Gaviria.

Der Experte José Antonio Ocampo von der amerikanischen Columbia-Universität geht dagegen davon aus, dass die Zunahme der Mittelschicht in Kolumbien stabil bleibt: "Es ist ein nachhaltiger Prozess. Das Problem liegt in der Definition der Mittelschicht, die auch Haushalte mit relativ geringem Einkommen mit einschließt, welche ein hohes Risiko haben, in Armut zu fallen", sagt Ocampo. Neben der Unbeständigkeit des Status Mittelschicht muss man in Kolumbien auch ihre geringe Größe im Vergleich zu anderen großen Wirtschaften Lateinamerikas berücksichtigen. In Chile gehören beispielweise um die 50 Prozent der Bevölkerung zur Mittelschicht, in Mexiko um die 40 Prozent.

Bewaffnete Kämpfer der kolumbianischen Rebellenorganisation FARC (Foto: dpa)
Die kolumbianische Wirtschaft leidet unter dem jahrzehntealten Konflikt im LandBild: picture-alliance/dpa

Instabile Wirtschaft gleich instabile Mittelschicht

Zu den Faktoren, die das Gleichgewicht der kolumbianischen Mittelschicht bedrohen, auch wenn diese über Generationen von besser ausgebildeten Fachkräften verfügt, zählt Gaviria "die Krisenanfälligkeit einer Wirtschaft, die auf Rohstoffen basiert, eine steigende Steuerlast, die wachsende Abhängigkeit von den Öl- und Bergbauexporten sowie eine angeschlagene verarbeitende Industrie". Als Beispiel nennt er die traditionsreiche kolumbianische Schuhindustrie: Deren Exporte beliefen sich 1991 auf 30 Millionen US-Dollar - und liegen heute bei gerade noch einer Million. Der Niedergang der Industrie mache sich auch auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar, fügt Gaviria hinzu. Zwischen 50 und 60 Prozent der Arbeitnehmer seien im informellen Sektor tätig.

Die Armutsquote ist in Südamerika im vergangenen Jahrzehnt dank einer Kombination aus günstigen wirtschaftlichen und sozialpolitischen Bedingungen stetig gesunken. Obwohl in Kolumbien ähnliche Bedingungen anzutreffen sind, geben die Zahlen dort weniger Anlass zur Freude: Während in Chile nur 7 Prozent der Bevölkerung als arm gelten und in Mexiko 17 Prozent, sind es in Kolumbien 37 Prozent.

Obststand am Straßenrand in Kolumbien (Foto: DW)
Mehr als die Hälfte der Kolumbianer arbeitet im sogenannten "informellen Sektor"Bild: DW

Der Rückstand Kolumbiens bei der der Bekämpfung von Armut und Ungerechtigkeit hängt unter anderem mit dem bewaffneten Konflikt zusammen, der das Land seit über einem halben Jahrhundert prägt. Unter der Gewalt, die von der Drogenmafia und der Guerilla ausgeht, leidet vor allem die Zivilbevölkerung. Viele Bauern haben durch Vertreibungen ihr Hab und Gut verloren, Geschäfte sind zerstört worden. Der Bürgerkrieg hemmt Investitionen und schwächt die Märkte.

Trotzdem sei die Mittelschicht die Stütze der kolumbianischen Wirtschaft, so Camilo Herrera, Leiter des kolumbianischen Thinktanks "Raddar", der auf Konsumforschung spezialisiert ist. "Vieles verdanken wir dem leichteren Zugang zu Krediten, der Verbesserung des Gesundheits- und des Bildungswesens sowie dem Wandel in der Arbeitsstruktur: In den 1950er Jahren war der Arbeitsmarkt von unqualifizierten Arbeitskräften in der Landwirtschaft geprägt, heute bietet die Bauwirtschaft in den Städten Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten", sagt Herrera.

Ich konsumiere, also bin ich

"Diese Schicht wird auch dadurch gekennzeichnet, dass der Konsum explodiert, sobald die untere Einkommensschwelle zur Mittelschicht überschritten wird", so Alejandro Gaviria. Das bestätigen auch die Umsatzzahlen einer der größten kolumbianischen Handelsketten für Haushaltsgeräte. Etwa ein Viertel ihrer monatlichen Ausgaben verwenden die Kunden für den Kauf von langlebigen Gütern. Vor einem Jahr lag diese Quote noch bei 7 Prozent.

Die bescheidene wirtschaftliche Verbesserung scheint sogar jene zu erreichen, die ohne Arbeitsvertrag und Sozialleistungen auskommen müssen. Mauricio Olivera, Vizeminister für Arbeit und Rente und Berater der Interamerikanischen Entwicklungsbank, gibt an, "dass das Realeinkommen der informell Beschäftigten um 27 Prozent gestiegen ist, wohingegen der Lohnzuwachs der formell Beschäftigten bei 6 Prozent liegt.“ Trotzdem ist das mittlere Einkommen der formell Beschäftigten immer noch doppelt so hoch wie das der informell Beschäftigten.

Die Armen in Kolumbien werden immerhin zunehmend als Konsumenten wahrgenommen - auch wenn sie statistisch weiterhin als arm gelten. Doch damit aus den neuen Bürgern mit Kaufkraft auch Bürger mit Entscheidungskompetenz werden, muss die politische Bildung alle Schichten erreichen. Davon ist Kolumbien jedoch noch weit entfernt.