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Mit Stacheln gegen Obdachlose

Marcus Lütticke23. Juni 2014

Auch in einem reichen Land wie Deutschland müssen Menschen auf der Straße leben. Ihre Zahl hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Aus den Innenstädten möchte man die Armen vielerorts am liebsten vertreiben.

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Obdachloser in Berlin (Foto: picture-alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Es ist ein täglicher Kampf um ein menschenwürdiges Leben. Seit zehn Jahren hat Torsten Meiners keinen festen Wohnsitz, lebt in verlassenen Häusern, Notunterkünften oder auf der Straße. Mitten in Hamburg, einer der reichsten Städte Deutschlands.

Für ihn ging der Abstieg aus dem geregelten Leben mit Job und fester Wohnung in die Obdachlosigkeit sehr schnell. Vor etwa zehn Jahren konnte er seine Miete nicht mehr bezahlen, durch seine Spielsucht waren Schulden entstanden, eine Depression raubte ihm jeglichen Lebensmut. "Gleich am Anfang dieser Depression und Obdachlosigkeit habe ich in einem Park geschlafen." Essen besorgte er sich von einer nahen Tankstelle, wo er die Toiletten reinigte und dafür Lebensmittel bekam, die nicht verkauft wurden. Durch das Sammeln von Pfandflaschen bekam er zusätzlich etwas Bargeld. Später nutzte er meist leer stehende Häuser als Schlafplatz.

Gespaltene Gesellschaft

Eigentlich dürfte es in einem so reichen Land wie Deutschland gar keine nennenswerte Zahl von Obdachlosen geben. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) besaßen die privaten Haushalte 2012 ein Nettovermögen von insgesamt 6,3 Billionen Euro. Pro Erwachsenen waren das also 83.000 Euro. Allerdings sind laut der Studie die Vermögen in keinem Euro-Land so ungleich verteilt wie in Deutschland. Gut ein Fünftel aller Erwachsenen verfügt über gar kein Vermögen, bei rund sieben Prozent sind die Schulden sogar größer als der Besitz.

Obdachloser in Bonn (Foto: DW/S. Amri)
Starker Anstieg in den letzten Jahren - Obdachloser in der InnenstadtBild: DW/S.Amri

Die BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W), der Dachverband der deutschen Wohnungslosenhilfe, hat in den letzten Jahren einen drastischen Anstieg der Wohnungslosigkeit in Deutschland festgestellt: 2012 hatten ca. 284.000 Menschen keinen festen Wohnsitz - ein Anstieg um etwa 15 Prozent gegenüber 2010. Die BAG W prognostiziert bis 2016 sogar einen weiteren Anstieg der Wohnungslosigkeit um ca. 30 Prozent auf dann 380.000 Menschen.

Bekämpfung der Armen – nicht der Armut

Das ohnehin schon harte Leben auf der Straße ist für Torsten Meiners in den letzten Jahren nicht leichter geworden. Denn statt auf Hilfe und Unterstützung trifft er häufig auf Abweisung und Repressalien - auch von Seiten der Stadt. So wurde vor Jahren unter der Kersten-Miles-Brücke im Stadtteil St. Pauli ein Zaun errichtet, um Obdachlose von dem beliebten Schlafplatz fern zu halten. "Dann gab es öffentliche Proteste, weil man gesagt hat, so eine Ausgrenzung wollen wir nicht", berichtet Meiners. Das führte kurzzeitig dazu, dass der Zaun wieder abgebaut wurde. Doch seit einem Brand im Frühjahr 2013 blockiert ein Baugerüst die Fläche nahe der Reeperbahn. "Auf absehbare Zeit wird die Baustelle da bleiben, weil man den Konflikt nicht mehr haben will." Eine tatsächliche Sanierung finde dort jedoch nicht statt.

Auch am Hauptbahnhof, so Meiners, würden wohnungslose Menschen regelmäßig vom dortigen Sicherheitspersonal verjagt. Christoph Butterwegge, Armutsforscher der Universität Köln, hat dafür auch Gründe ausgemacht: "Es findet eine Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Bahnhöfe statt, die immer stärker zu Konsumtempeln mit Gleisanschluss ausgebaut werden. Da übergibt man die Verantwortung an ein privates Unternehmen. Das säubert dann entsprechend und lässt den Armen und Obdachlosen keinen Platz mehr, um in irgendeiner Ecke des Bahnhofs auch mal die Nacht zu verbringen."

Christoph Butterwegge, Armutsforscher (Foto: picture-alliance/ZP)
Warnt vor der sozialen Spaltung - Armutsforscher Christoph ButterweggeBild: picture alliance/ZB

Nächtliche Dusche

Eine besonders aggressive Form der Vertreibung fand vor einigen Jahren im Eingangsbereich zum Warenhaus einer großen Modekette statt. Nachts wurde durch kleine Düsen in der Wand Wasser auf die Fläche vor der Eingangstür gespritzt. Wer dort sein Nachtlager bezogen hatte, wurde aus dem Schlaf gerissen und völlig durchnässt. Anfang dieses Jahres gab es das gleiche Prozedere dann vor einer Filiale des Modehauses in Münster. Einer Vertreibung von Obdachlosen, so das Unternehmen, solle durch die Maßnahme jedoch nicht bewirkt werden. Es gehe lediglich um eine Reinigung des Areals. In Hamburg wurde die nächtliche Dusche nach Protesten wieder eingestellt.

Nicht nur in Deutschland wird obdachlosen Menschen das Überleben in den Städten erschwert. In London sorgte die Installation von Metallstacheln im Zugangsbereich eines Wohnhauses für große Empörung. Die Hausverwaltung wollte dadurch wohl verhindern, dass sich Menschen in diesem Bereich niederlassen.

Spikes gegen Obdachlose in London (Foto: picture-alliance/dpa)
Anlass für Proteste - Metallspitzen gegen Obdachlose in LondonBild: picture-alliance/dpa

Torsten Meiners hat für solche Maßnahmen kein Verständnis. "So kann man mit Menschen einfach nicht umgehen." Gleichwohl kann er aber auch die Anliegen von Geschäftsleuten und Anwohnern verstehen. "Wenn man frühmorgens zur Arbeit geht und sieht, dass da Menschen - vielleicht auch noch alkoholisiert - in den Eingängen schlafen, dann ist das für alle Beteiligten nicht zumutbar." Daher müsse man Lösungen schaffen, die allen einigermaßen gerecht werden.

Als positives Beispiel nennt er in Hamburg eine Initiative von Geschäftsleuten, die den Obdachlosen Schließfächer und einen Waschraum zur Verfügung stellt. So etwas trage zu einem verständnisvollen Miteinander bei und sei für beide Seiten positiv.

Verfehlte Sozialpolitik

Am besten wäre es natürlich, wenn ein wirklich stabiles soziales Netz es verhindern würde, dass Menschen überhaupt auf der Straße leben müssen. Denn eine freiwillige Entscheidung sei ein solches Leben eigentlich nie, sagt Meiners. "Wenn man irgendein Angebot bekäme, dann würde das sicher keiner ausschlagen." Aber auf dem angespannten Wohnungsmarkt in Hamburg, wo bezahlbarer Wohnraum fehlt, hätten obdachlose Menschen keine Chance.

Armutsforscher Butterwegge macht dafür auch die verfehlte Politik der letzten Jahre verantwortlich. "Statt die Wohnungspolitik immer mehr den privaten Investoren zu überlassen, müsste der Staat natürlich dafür sorgen, dass Menschen nicht obdachlos werden - so, wie er es früher mit sozialen Wohnungsbauprojekten gemacht hat." Stattdessen werde die Gesellschaft immer mehr dem Markt überlassen, "nach dem Motto: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Das ist eine soziale Verrohung und Verwahrlosung der Gesellschaft."