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Kreativ gegen politischen Frust

Senada Sokollu1. April 2014

Die Türkei geht seit einem Jahr durch eine ihrer größten politischen Krisen - für die Kunstszene eine Chance, sich auszuleben und auf kreative Weise Protest zu üben. Allerdings: Oft hat das schwerwiegende Folgen.

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Bunte Treppe Regenbogen Peace Frieden Türkei
Bild: AFP/Getty Images

Korruptionsskandal, Massenproteste, Twitter- und Youtube-Verbot. Während in der türkischen Politik ein Skandal den nächsten jagt, lässt sich das Volk den Spaß nicht verderben: Mit Graffiti, Comics und Musik erleben viele gerade in der politischen Krise ihre künstlerische Hochphase.

Nicht nur professionelle Künstler toben sich aus. Auch Normalbürger verewigen sich an Hauswänden in Form von Streetart oder machen aus Fotos am Computer satirische Gags, um sie dann im Internet zu verbreiten.

Still stehen für Stunden

Seit fast einem Jahr geht das nun schon so. Die Kunst ist Ventil für den angestauten politischen Frust, der in den überwiegend von der Regierung kontrollierten Medien kein Sprachrohr findet. Seit dem Ausbruch der Gezi-Park-Proteste im vergangenen Jahr wurde die Kunst vermehrt als alternative Art von Protestform herangezogen. So inspirierte der Künstler Erdem Gündüz, bekannt als "Standing Man", Millionen von Menschen, indem er mit einem stillen Stehprotest seinen Unmut gegen die Regierung ausdrückte.

Der sogenannte "Standing Man" Erdem Gunduz bei seinem stillen Protest auf dem Taksim-Platz in Istanbul (Foto: MARCO LONGARI/AFP/Getty Images)
"Standing Man" Erdem Gunduz auf dem Taksim-PlatzBild: MARCO LONGARI/AFP/Getty Images

Auch die Musikszene ist voller regierungskritischer Lieder. Allein in Istanbuls alternativen Diskotheken, wie im Club "Araf" im Ausgehviertel Beyoglu wird mindestens einmal am Abend ein ganz bestimmter Titel gespielt. Es ist der Song des Widerstandes aus den Gezi-Park-Protesten, den Millionen Menschen immer wieder bei den Demonstrationen singen. Der Titel lautet "sik bakalim!", was so viel heißt wie "sprüh mal!". Es geht um Tränengas und Schlagstöcke. Dann singen alle Gäste im Club lautstark mit, lachend, springend und tanzend.

Zu den eindrucksvollsten Protestaktionen gehören aber die Regenbogentreppen: Über Nacht wurden Dutzende graue Treppen in türkischen Städten in Regenbogenfarben angemalt. Die Regenbogenfarben - ein Symbol von Frieden und Toleranz.

Erdogan knabbert am Twitter-Vogel

Vor allem Premierminister Erdogan ist in der jüngsten Zeit vermehrt zum Zielobjekt künstlerischer Darbietungen geworden. Kurz nachdem Twitter gesperrt wurde, hagelte es humoristische Zeichnungen - aus Protest gegen seinen autoritären Regierungsstil. So sah man Erdogan auf Titelblättern diverser türkischer Zeitungen am blauen Twitter-Vogel knabbern oder als Fahrer eines "Demokratie-Mobils" unzähligen Twitter-Vögeln davonfahren. Am weitesten verbreitet war die Zeichnung auf der man sieht, wie die blauen Tierchen ihre Notdurft verrichten - auf Erdogans Haupt.

Auch dazu, wie man die Internetsperren umgehen kann, gab es diverse Ratschläge und Hinweise in Form von DNS-Codes: als Graffiti an die Wände türkischer Städte gemalt.

Und zuletzt wurden die aktuellen Kommunalwahlen durch Künstler ordentlich auf die Schippe genommen. So zeigte die Comic-Zeitschrift "Penguen" auf ihrem Titelblatt eine Zeichnung, die einen Wähler an einer Wahlurne zeigt. Statt eines Wahlzettels wirft er Geld in die Urne. "Im Schatten der Korruption und Bestechung gehen wir wählen", kommentiert ein Satz die Zeichnung.

Ein Titelblatt des Satire-Heftes "Penguen": Ein Mann wirft Geld in eine Wahlurne; in der Sprechblase steht: "So viel konnte ich gerade noch zusammenkratzen." (Foto: Penguen)
"So viel konnte ich gerade noch zusammenkratzen."Bild: Penguen

Satire hat Tradition in der Türkei

"Die Türkei hat seit ihrer Gründung ein Demokratie-Problem. Daher gibt es Satire schon immer in geschriebener, gezeichneter und verbaler Form. Satire hatte ihren Platz bereits zu Zeiten des Osmanischen Reiches, als Satiriker sich über den Sultan lustig machten", so Hakan Bilginer im DW-Gespräch. Er hat 2010 die Satire-Zeitschrift "Zaytung" gegründet. Genau zu der Zeit, als die Regierungsform in der Türkei autoritärer wurde und Journalisten und die Medien verstärkt unterdrückt worden seien, erzählt Bilginer.

"Wir hatten noch keine Probleme mit der Regierung, weil wir ein unabhängiges Magazin sind. Die Art und Weise, wie die türkische Regierung die Medien kontrolliert, erfolgt vor allem durch Geschäftsbeziehungen. Da wir diese nicht haben, wird kein direkter Druck auf uns ausgeübt", erklärt Bilginer. In der Regierung sei die Zeitschrift bekannt, sagt er. "Regierungsmitglieder folgen uns sogar in den sozialen Medien, wie Facebook und Twitter. Manchmal teilen sie sogar unsere Einträge, weil sie es zum Lachen finden", sagt er. Zugegebenermaßen sei die Redaktion aber vorsichtig, wenn es um den Inhalt gehe: "Wir versuchen keine Probleme mit dem Gesetz zu bekommen, daher beleidigen wir die Regierung nie direkt. Aber wir finden immer einen Weg, das zu sagen, was wir meinen. Außerdem geht es ja um Humor. Dadurch hat man immer einen Bonus", erzählt Bilginer.

Comic aus der Zeitschrift "Leman": Zu sehen ist ein AKP-Politiker mit einem Messer in der Hand, darüber die Sprechblase: "Mit welchem Finger hast du dich bei Twitter eingeloggt?!" (Foto: Penguen)
"Mit welchem Finger hast du dich bei Twitter eingeloggt?"Bild: Leman

Weiter lachen trotz Klagen

Anders als Bilginer hat Tuncay Akgün bereits schlechte Erfahrungen mit der türkischen Regierung gemacht. Akgün hat vor 28 Jahren das Comic-Heft "Leman" gegründet, kurz nach dem Militärputsch von 1980. Es gehört mit 30.000 Auflagen zu den meist verkauften Comics der Türkei.

"Wir sind ein sehr radikales Blatt. Reihenweise wurden wir Künstler ins Gefängnis gesteckt. Auch ich saß im Gefängnis", erzählt Akgün im Gespräch mit der DW. Momentan laufe ebenfalls ein Verfahren gegen sie, sagt er. "Die Regierung hat gegen uns geklagt. Die Klage liegt mittlerweile beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wir werden wahrscheinlich eine hohe Geldstrafe bekommen. Es geht um die Beleidigung des Premierministers. Wir hatten ihn auf der Titelseite mit dem Mittelfinger abgebildet." Er vertraue auch den türkischen Gerichten nicht, da sie nicht unbedingt unabhängig seien, sagt Akgün. "In der Türkei weiß man nie, was passiert. Wir sind auf alles gefasst."

Der Cartoonist Tuncay Akgün in einem Café (Foto: DW)
Der Cartoonist Tuncay AkgünBild: DW/S. Sokullo

Trotzdem sei das kein Grund für Selbstzensur, meint der Cartoonist. "Das macht uns aus. Wenn wir ständig daran denken würden, was uns passieren könnte, bräuchten wir gar nicht mehr zu zeichnen. Wir zeichnen das, worauf wir Lust haben und bei dem wir der Meinung sind, dass das jetzt an die Öffentlichkeit muss." Akgün ist stolz auf seine Landsleute. "All die Zeichnungen und Graffitis in der gesamten Stadt sind großartig. Sie werden mehr und immer besser." Kunst sei einfach ein gutes Mittel für alle Beteiligten.