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Kinderleiche in Bremen

12. Oktober 2006

Zu spät. Viel zu spät kamen sie, um ihn zu holen. Das Bremer Jugendamt fand nur noch Kevins Leiche. Sein Tod wirft nun wieder die Frage nach der Funktionsfähigkeit der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe auf.

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Ein kleiner Junge sitzt verängstigt in der Ecke seines Kinderzimmers und umarmt einen Teddy
Können die Jugendämter Kinder vor Gewalt schützen?Bild: dpa Zentralbild

Mit Gewalt hatte die Polizei am Dienstag (10.10.) die Wohnung im Bremer Stadtteil Gröpelingen aufgebrochen. Das Jugendamt wollte Kevin bei seinem Vater abholen, acht Tage, nachdem ein Beschluss des Familiengerichts es dazu befähigte. Die Polizisten fanden nur noch Kevins Leiche - im Kühlschrank eingewickelt in eine Decke und drei Müllbeutel. Beim Eintreffen der Polizei soll das Kind bereits mehrere Tage tot gewesen sein. Fest steht nach dem vorläufigen Obduktionsbericht: Kevin hatte mehrere Brüche an Beinen und Unterarmen sowie Blutungen auf dem Schädel. Die genaue Todesursache und der Todeszeitpunkt sind noch nicht ermittelt.

Früh bekannt

Kevin war den Behörden schon seit seiner Geburt bekannt, weil seine drogenkranke Mutter gewalttätig geworden war. Seit dem Tod seiner Mutter im November 2005 stand er unter der Vormundschaft des Jugendamtes, wohnte jedoch bei seinem ebenfalls drogenkranken Vater. Der Staatsanwaltschaft zufolge starb die Mutter an inneren Verletzungen. Gegen den Vater wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Totschlag eingeleitet. Das Jugendamt habe nach Angaben von Amtschef Jürgen Hartwig davon nichts gewusst. Gewusst haben sie: Der Vater kam Gerichtsterminen und Aufforderungen des Jugendamtes nicht nach. Seit April hat niemand mehr von der Behörde das Kind gesehen. Nichts geschah. Gegen die Bremer Sozialbehörde ermittelt die Staatsanwaltschaft nun wegen Verletzung der Fürsorgepflicht.

Viele Hinweise

Die Bremer Sozialsenatorin Karin Röke, SPD, am Mittwoch, 11. Oktober 2006, in Bremen, nachdem sie im Rahmen einer Pressekonferenz Ihren Ruecktritt erkläte
Die Umstände um den Tod von Kevin zwangen sie zum Rücktritt: die Bremer Sozialsenatorin Karin RöpkeBild: AP

Dabei gab es so viele Hinweise: Zwei Mal sei der Junge im Hermann-Hildebrandt-Kinderheim aufgenommen worden, teilte Bremens Bürgermeister Jens Böhrnsen mit. Dieser hatte in seiner ehrenamtlichen Tätigkeit im Vorstand des Kinderheimes von den Sorgen der Heimarbeiter um den Jungen erfahren. Bereits dort seien Knochenbrüche, Untergewicht und Entwicklungsstörungen festgestellt worden, räumte Böhrnsen ein. Doch gegen den Rat der Heimleitung gab die Sozialbehörde den Jungen wieder in die Obhut seiner Eltern. Böhrnsen erklärte, er habe schon zu Jahresbeginn Sozialsenatorin Karin Röpke auf den Fall hingewiesen. Röpke habe ihm versichert, alles in die Wege geleitet zu haben. "Doch das dringend und zwingend Nötige ist nicht geschehen, dass wissen wir heute". Es geschah auch nichts, als sich die Richterin, die Kevin unter die Vormundschaft des Jugendamtes stellte, mehrfach an die Behörden wandte mit dem Hinweis, "dass dringend etwas geschehen müsse".

Sozialsenatorin Röpke übernahm nun für den Fall die politische Verantwortung und trat am Mittwoch (11.10) zurück. "Auf mein Betreiben hin wurde diesem Fall besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dennoch ist es nicht gelungen, den Tod des Jungen zu verhindern", erklärte Röpke. Sie habe angesichts der Tragweite dieses Falls jedoch nicht mehr die Kraft, die Aufarbeitung der Geschehnisse zu betreiben.

Kein Einzelfall

Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe Direkt
Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Kinderhilfe, ist über den Fall Kevin empörtBild: Deutsche Kinderhilfe Direkt e.V.

Für Georg Ehrmann, Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Kinderhilfe Direkt ist Kevin kein Einzelfall: "Das ist leider ein weiterer Beleg für den desaströsen Zustand des deutschen Kinder- und Jugendhilfesystems". Als Hauptproblem sieht er die finanzielle Abhängigkeit der deutschen Kinder- und Jugendhilfe. "Die Etats für die Jugendämter werden immer öfter um zehn bis 20 Prozent pro Kommune zusammengestrichen", empört sich Ehrmann. Damit seien auch die Mittel der aufsuchenden Jugendhilfe gekürzt worden, also der Mitarbeiter, die durch unangemeldete Besuche die Situation des Kindes überprüfen. Die Jugendämter würden sich immer mehr entscheiden, die Kinder trotz nachweislicher Gefahr für Leib und Leben in ihren Familien zu belassen. Der Grund: "Eine Unterbringung der Kinder in Pflegefamilien oder in kommunalen Einrichtungen ist wegen der Kürzungen schlichtweg zu teuer". Ehrmann ist verärgert: "Dass plötzlich nicht mehr das Kindeswohl im Vordergrund steht, sondern monetäre Erwägungen: Das darf nicht sein".

Ein weiteres Problem sieht Ehrmann beim Thema Datenschutz: "Die Staatsanwaltschaft in Bremen ermittelte gegen den Vater. Diese Information wurde nicht an das Jugendamt weitergeleitet. Und das Jugendamt arbeitet nicht mit dem Sozialamt zusammen. Alles mit dem Hinweis, dass sie die Daten vom Vater oder vom Kind nicht weitergeben dürfen. Das ist doch Wahnsinn!" Er schlägt vor, die Daten zentral beim Jugendamt zu sammeln, um Unwissen wie in Bremen künftig zu verhindern. "Das Jugendamt muss wieder hin zu mehr Hilfe für die Familien und damit für die Kinder". (ca)