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Volksaufstand nach einem Jahr Mursi

Matthias Sailer1. Juli 2013

Schon vor der für Sonntag geplanten Großkundgebung gibt es in Ägypten schwere Gewaltausschreitungen mit Toten und Verletzten. Mehrere Parlamentarier traten zur Unterstützung der Opposition von ihren Posten zurück.

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Protestierende auf einer Kundgebung in Kairo (Foto:REUTERS/Amr Abdallah Dalsh)
Schon vor dem Jahrestag: In Ägypten drohen Massenproteste zu eskalierenBild: Reuters

Mohamed steht vor seinem winzigen Café. Es besteht aus zwei Plastikstühlen und einem Gaskocher in einem blauen Metallschrank an der Wand einer kleinen Gasse. Der 49-Jährige ist wütend auf Präsident Mohammed Mursi und die Muslimbrüder. Die zehn ägyptischen Pfund (rund ein Euro), die er täglich aufbringen muss, um seinen Sohn zu ernähren, könne er wegen der steigenden Preise kaum noch erübrigen. Hinzu kämen die ständigen Stromausfälle, die Benzinknappheit und viele gebrochene Versprechen der politischen Machthaber.

So wie Mohamed denken viele. Laut einer aktuellen Umfrage des Zogby International Instituts unterstützen nur noch 28 Prozent der Ägypter den Präsidenten. Mohamed legt nach: "Die Situation ist kaum erträglich. Unter Mubarak und seinem Innenminister ging es uns viel besser. Damals lebten wir wenigstens noch in Sicherheit. Heute sind wir nicht mal mehr am hellichten Tag sicher."

15 Millionen Unterschriften gegen den Präsidenten

Diese Wut auf die bisherige Politik der Muslimbrüder und ihres Präsidenten hat in den vergangenen beiden Monaten Ausdruck in der "Tamarod"-Kampagne gefunden: Ihr Ziel ist es, 15 Millionen Unterschriften gegen den Präsidenten zu sammeln. Mursi wurde 2012 mit nur 13 Millionen Stimmen gewählt. Die Initiatoren hoffen, den Präsidenten so zum Rücktritt zwingen zu können.

Mohamed am 17.06.2013 mit seinem Sohn Islam vor seinem Mini-Straßencafé (Foto: Hammuda Bdewi)
Mohamed mit seinem Sohn vor seinem improvisierten StraßencaféBild: Hammuda Bdewi

Für den 30. Juni hat Tamarod schließlich eine Großkundgebung vor dem Präsidentenpalast angekündigt, um Mursi weiter unter Druck zu setzen - und um die ägyptische Revolution fortzusetzen. Tamarod ist das arabische Wort für "Rebell".

Moheb Doss ist einer der sechs Gründer der Kampagne, deren Unterschriftensammler momentan an fast jeder Straßenecke Kairos zu finden sind. "Einige unserer Leute sind angegriffen worden. In manchen Fällen hat man ihnen auch Unterschriftenlisten gegen ihren Willen entrissen. Unsere weiblichen Aktivisten wurden belästigt." Außerdem hätten einige junge Mitglieder der Muslimbruderschaft mit denselben Formularen Unterschriften gesammelt und diese dann weggeworfen, um so Stimmen gegen Mursi abzufangen.

Keine Pläne für die Zeit nach Mursi

Die Aktion war bisher trotzdem außerordentlich erfolgreich. Der offizielle Sprecher der Kampagne gab am 19. Juni sogar bekannt, dass man die Zahl von 15 Millionen Unterschriften schon überschritten habe.

Viele, die ihre Unterschrift für die Tamarod-Kampagne leisten, fühlen sich vom Präsidenten betrogen. Einige hatten ihn zwar vor einem Jahr noch selbst gewählt. Inzwischen sehen viele im Land Mursi aber nur noch als autoritären Interessenvertreter der Bruderschaft.

Moheb Doss am 17.06.2013 im Tamarod-Hauptquartier in Kairo (Foto: Hammuda Bdewi)
Für Moheb Doss hat Präsident Mursi seine Legitimität wegen seines autoritären Verhaltens verloren.Bild: Hammuda Bdewi

Was nach einem möglichen Sturz des Präsidenten kommen soll, ist allerdings völlig offen. Denn die Führer der politischen Opposition sind beim Volk ebenfalls nicht sonderlich beliebt. Das sieht auch der 21-jährige Ahmed so: "Mir ist inzwischen klar, dass es auch denen nur um die Macht geht. Die Menschen sind denen allen doch egal."

Die Muslimbrüder halten dagegen

Im Falle eines Sturzes von Mursi wollen einige Oppositionelle den Vorsitzenden des Verfassungsgerichts zum Präsidenten ernennen lassen, der dann bis zu Neuwahlen eine Übergangsregierung bilden soll. Doch auf welche Legitimation und Machtbasis sich diese Regierung stützen würde, bleibt unklar.

Zudem geht es einigen der Protestler weniger um Demokratie, als vielmehr um angestaute Frustrationen über die Verfehlungen der Politik - so wie auch Mohamed: "Ich möchte, dass die Armee wieder die Macht übernimmt und mit all den Dieben, Kriminellen und all den Leuten mit Messern, Schwertern und Revolvern aufräumt. Solange das passiert, ist es mir egal, wer Präsident wird - selbst, wenn er Israeli wäre."

Ägypten ist in Angst: Keiner weiß, was am 30. Juni passieren wird. In Alexandria hat es am Freitag (28.06.2013) Tote bei den Protesten gegeben. Und das Verhalten der Muslimbrüder zeigt, wie ernst sie die Lage einschätzen. Sie fühlten sich genötigt, eine Gegenkampagne zu starten. Am vergangenen Freitag versuchten sie auf einer Großkundgebung mit hunderttausenden ihrer Anhänger, ihrem Präsidenten den Rücken zu stärken. Mursis Ministerpräsident nannte einen möglichen Sturz des Präsidenten gar eine "Katastrophe".

Sortieren von Stimmzetteln im Hauptquartier der Tamarod-Kampagne; Kairo; 17.06.2013 (Foto: Hammuda Bdewi)
Freiwillige sortieren die Unterschriftlisten im Hauptquartier der Tamarod-Kampagne.Bild: Hammuda Bdewi

Doch auch die Islamisten selbst sind sich längst nicht mehr einig. Die zweitstärkste islamistische Partei, die salafistische Nour-Partei, forderte Mursi jüngst zu erheblichen Zugeständnissen an die Opposition auf.

Verweis auf die Wahlen

Das zentrale Argument der Muslimbrüder ist, dass der Präsident vom ägyptischen Volk gewählt worden sei. Der Versuch, den Präsidenten zu stürzen, sei daher illegitim und gegen den Wählerwillen. Das meint auch der junge Ibrahim, der an der Pro-Mursi-Demonstration teilnahm: "Wenn die Menschen den Präsidenten zum Rücktritt zwingen, werden sie auch jeden zukünftigen Präsidenten zum Rücktritt zwingen." Um dem Chaos einen Riegel vorzuschieben, solle der gewählte Präsident deshalb bis zum Ende seiner Amtszeit durchregieren.

Die Muslimbrüder sehen sich derzeit in der Opferrolle und viele von ihnen halten die Tamarod-Kampagne für eine Verschwörung von Mitgliedern des Mubarak-Regimes. Einige glauben gar, dass sie vom westlichen Ausland mitfinanziert sei - mit dem Ziel, Ägypten zu destabilisieren. Die Gefahr einer Eskalation der Gewalt zwischen Mursi-Anhängern und seinen Gegnern ist daher hoch.